Sepia
östliche Land, die andere Sprache, die besondere östlich-orthodoxe Frömmigkeit. Sie wirft Rucksack und Stab ins Uferkraut. Sie zieht die nassen Kletterschuhe aus. So einfach geht das.
Wer hätte das gedacht. Kein Schuss aus einem Gewehr, keine Minen, keine Verletzungen von den Krallen des berüchtigten Rechens, die Kleider im Bündel sind dank der Tischdecke trocken. Eli sitzt auf dem Rucksack, das Herz klopft wie verrückt. Die Zähne klappern. Weil alles so einfach war, ganz leicht, das Wasser der Neiße verhältnismäßig warm, ein Spaziergang, eigentlich fast romantisch. Eli wischt mit dem Handrücken über das nasse Gesicht. Salz. Sind das etwa Tränen? Sie rutscht vom Rucksack, sie schaut in den hellgrauen Himmel und in das Land.
Es ist Nacht, man erkennt in der Ferne einen zackigen Waldsaum und in der Nähe eine große horngekrönte Kuh. In der Johannisnacht können die Menschen die Sprache der Tiere verstehen. Zum Beispiel: Ducks. Die Kuh klirrt mit der Kette, Ducks, das ist ein Wort aus einem Märchen und aus einem Lied. Ducks heißt, pass bloß auf, denn du bist noch nicht angekommen, du bist längst noch nicht am Ziel.
Die Kuh hebt den Kopf, sie dreht die Ohren, als warte sie auf eine Antwort. Sie kommt einen Schritt näher, vorsichtig klirrend, bis die Kette nichts mehr hergibt. Die spitzen Hörner im Abstand.
Eli starrt in die Finsternis. Sie sitzt wie ein Schneiderlein neben dem Rucksack, horcht waldwärts in die Richtung, wo man in einer milchigen Senke eine Straße vermuten könnte, horcht wachsam, im Nacken immer noch eine Last, Furcht, aber jetzt deutlich unter dem Segen eines guten Geschicks oder der Johannisnacht, als würde bald einer kommen, sie abzuholen, Prinz Ludwig mit einer Kutsche, gezogen von einem Schimmelgespann. Der Mond steht wie eine Schüssel Grießbrei über dem Wald. Ludwig, ich liebe, ich denke an dich und an die Schreibmaschine. Gern wüsste ich, was ihr miteinander treibt, die Buchstaben und du.
Ducks, käut die Kuh, und das ist Schlesisch, Eli erinnert sich, es ist die Zeile aus einem Märchen und aus einem Hochzeitslied. Ducks hie, ducks har.
Eli wartet auf den Morgen.
Die Kuh käut und käut, denn die Kuh ist ein Wiederkäuer.
Im ersten Taglicht erkennt man, es ist eine rotbunte Kuh. In Heinrichs Stall, da hat immer eine rote gestanden und immer eine Liese. Das schummrige Morgenlicht zeigt eine Wiese, gehäufeltes Gras, Heu. Landschaft. Landwirtschaft.
Aber drüben am Wald tritt Finsteres aus der Finsternis. Eisern und mächtig tritt es vor den dunklen Saum der Bäume.
Eli, du dachtest wohl, du hast den Sprung von einer Seite auf die andere in einer einzigen langen scheußlich romantischen Sommernacht geschafft, du dachtest wohl, du brauchst nur mit deiner Drahtschere durch einen Drahtverhau, du musst nur einen mannstiefen Fluss durchqueren. Nein, jetzt erst, im durchsichtigen Licht des Tages, steht der bewaffnete Apparat auf, jetzt kommt der ernste Teil deiner Frechheit.
Ein eisernes Grenzgespenst hockt in der Morgensonne, es lauert geladen. Es lauert sprungbereit. Du bist erkannt. Du bist das Ziel. Es ist die Klaue, die zupackt, wenn du dich wunderbar aufgehoben, wenn du dich bereits in Sicherheit, sogar schon in Liebesträumen wähnst.
Nun gilt es. Befiel dich dem Herrn oder dir selber.
Erweibe dich, Rafaela.
Die Kuh schüttelt die Ketten. Kein Laut, kein ermunterndes Ducks.
Eli stapft mit geschultertem Rucksack, der Trinkbecher schwenkt am Riemenhaken, schwenkt entschlossen mit jedem Schritt. Sie quert die Grasstoppeln, gradewegs Richtung Wald. Es ist ein Fichtenwald. Das Gespenst ist ein Heuwender. Ein alter verrosteter Doppelwender, hochgestellte Zinken, Deichselhalter, hinten an der Sitzschale aus gestanztem Blech eine geprägte Fabrikmarke: Hassia und Co. Butzbach.
Der alte Hassia hat Schimpfe verdient. Rosteimer. Eli tritt gegen die Eisenräder. Sie geht noch ein Stück, dann fällt sie wie ein Käfer ins Heu. Todmüde, mit schmerzender Zehe. Den Rucksack auf dem Rücken.
Die Sonne steht schon hoch, als Eli zu sich kommt. Ein quietschendes Instrument, eine taktsichere Fidel überfliegt ihren Kräuternarkosetraum. Mückenwolken und eine schleifende Fahrradkette, dazu klapperndes Blech. Ein alter Mann mit Strohhut und Heugerät. Wie Heinrich, aber Heinrich kann es nicht sein, der steckt in der Büchse, außerdem konnte Heinrich nur mit einem Bein treten, das andere hing stocksteif neben dem linken Pedal. Granatsplitter. Erster Weltkrieg. Verdun.
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