Sepia
wäre Betrug.
Eli trauert also um den Verstorbenen. Ihren schlesischen, den nachmaligen West-Großvater. Herrn Heinrich Mann, Witwer von Frau Mann, Berta. Landwirt. Hühnerologe. Bienenhalter. Brückenbauer. Statt vor dem Abtransport innezuhalten, statt Abschied zu nehmen, statt sich zu erschießen wie Knopffabrikdirektor Hirsch, hat er zum Schluss noch einmal seine Brücke repariert. Mit Baumstangen und Bast und Einsamkeit. Für nichts und wieder nichts, sagten die Leute, und manche glaubten, bei dem tickt es nicht mehr richtig im Kopf. Morgen sind wir fort, und morgen sind die anderen da, die nichts lieben können, weder die Esche vor dem Haus noch die Erlenhexe, weder den Spitzberg noch unser warmes Strohdach über Stube und Stall noch die Hühnerstiege mit den Goldmedaillehühnern, schwarzen Italienern, und die wunderbar festgefügte Kackhütte mit der schönen Aussicht ins Katzbachtal. Heinrich repariert die Brücke für all die Lieblosen, die in Kürze über den Berg kommen werden. Man hört schon sehr nahe die Werkzeuge des Jüngsten Gerichts, die russischen Katjuschakanonen. Dazwischen Heinrichs Pochen, den Rhythmus seines Hammers, fünf Schläge für einen Keil.
Eli verzieht ihr Gesicht zu einer Trauerfratze, hässlich, die Augen rot vom Salz.
Endlich kann sie trotz des inneren Gelächters nach außen hin anständig heulen.
Montags waltet immer noch zuverlässig der gute Geist von Berlin, er schickt mit dem Chauffeur vom Außenhandel den Montagsfilm. 17 Uhr startet die Vorführung. Sie ist nirgendwo angezeigt, weder am Pförtnerfenster noch im Schulfilmprogramm an der Mitteilungstafel. Der Montagsfilm ist ein Ritual, man findet sich ein wie zu einer heimlichen heiligen Messe.
Eli hockt schon seit einer Stunde im großen Vorführraum, die beiden Projektorfenster sind schwarz, noch geschlossen, denn der Vorführer macht seine lange Pause. Ungestört hockt Eli in ihrem warmen roten Sessel, die Knie unter dem Kinn, offene Tür, offene Vorhänge, sperrangelweit offen die Fenster. Der Dunst des Tages, der Mulm der Stummfilme des Fachs Filmgeschichte hat sich verzogen, frische Mailuft flutet herein. Die Leinwand raschelt, eine Hummel stößt in den Raum.
Unten am See patrouilliert pünktlich der Grenzjeep.
Eli, so wunderbar vor der Zeit, so vielfältig aufgehoben, sinkt in die alte bleierne Finsternis. Schlaf. Da schwimmt das Leben, die Reise, die Aufgabe wie im Film, viele wunderfeine Nadeln sticheln deutliche Muster. Dresden, der Heidefriedhof. Eli geht unter Bäumen einen Hauptweg entlang, feierlich schreitend trägt sie die Heinrich-Büchse in beiden Händen.
Musik hängt in den vielen zuckenden Schatten, Stimmen flüstern. Gedrängte Anteilnahme. Schwarzweiß und momentane Stille. Ein grober Lichtwechsel. Dann ein wahrlich knisterndes Schweigen. Die Spule, der Transport des Streifens, die Greifer packen die Perforation.
Die Vorführung läuft.
Ein fingiertes Telefonat hatte den Hausmeister beim Pförtner festgehalten. Der Vorführer hatte den Film, weil er für die Saalbesetzung nicht verantwortlich war, wieder einmal trotz Überfüllung gestartet. Darauf war der Hausmeister machtlos.Die Wände entlang und auch im Mittelgang sitzen Studenten, Mitarbeiter aus der Verwaltung, die ihre Bekannten mit hineingeschleust haben.
Der Mann vom Filmvertrieb hatte die lange Version von
Sie küssten und sie schlugen ihn
aufgetrieben.
Les quatre cents coups
, so heißt der Film nach einem französischen Sprichwort im Original. Der Regiestudent Werner hatte sich Tage zuvor intensiv mit dem Material beschäftigt. Er sagt an, wenn eine Stelle kommt, die in der offiziellen Version fehlt. Jedes Mal Gelächter im Saal. Nackter Hintern, Hände in der Hose, Zärtlichkeiten, so was. Entbehrlich und notwendig, unabdingbar für die Kunst.
Eli atmet, sie kriecht aus den Träumen und den Lasten des Alltags. Die Luft, der Rhythmus. Das Wesen, das aus dem Geschehen kommt. So wach. So hell erleuchtet.
Am heutigen Tag, genau mit dem heutigen Montagsfilm, hat mein neues Leben angefangen, schreibt Eli noch in der Nacht in vier Briefen. Das ewige Schnipseln am Schneidetisch hat ein Ende. Lange ungekürzte Einstellung. Man hört die Stimmen, die Fragen aus dem Off, es darf auch umgekehrt sein, man sieht das stumme Gesicht und hört die Antworten, jedenfalls Schnitt und Gegenschnitt, damit ist Schluss. Der Regisseur Truffaut soll durch Zufall die stabile altmodische Form verworfen haben. Weil eine Schauspielerin nicht pünktlich
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