Sepia
Gegenteil.
Eli hat die Frist überschritten. Der Dekan grollt, aber er hat die Hoffnung nicht verloren. Fräulein Rafaela, leider bist du zurzeit mehr mit dem Leben beschäftigt als mit der Schule.
Er reicht Eli ein feines Taschentuch über den Schreibtisch, bräunliche Kante, deutliches Monogramm. Man könnte denken, dass nun Tränen fließen, aber Eli heult nicht, sie schnieft an einem würdelos wässrigen Septemberschnupfen.
Das muss sich ändern, sagt er.
Gewiss, sagt Eli. Sie steht vor ihm, unerschrocken, aber sehr blass, ihrerseits ist alles gesagt, alles besprochen, der Dekan hat sich ihr zugewandt, er hatte Eli Sprechzeit gewährt, weil ihr Fortkommen seine Dekanspflicht ist und sein Anliegen.
Eli hält das Taschentuch. Er nimmt es nicht zurück. Er nimmt ihre Hand. Es ist eine Sekundensache, und Eli ist weder schuld noch unschuldig. Eli sitzt auf dem Dekanschoß, sie neigt die Stirn, sie berührt die Schulter, den Kragen, die Haut zwischen Stoff und Ohr, viel fremder Duft, viel Schreck und verlockende Erlösung.
Ach nein, danke. Eli legt das glatte sauber gefaltete Taschentuch leise auf den Eichenschreibtisch. Der Dekan stützt die Ellenbogen auf, die Handflächen bilden eine Wand vor der Stirn, er schließt die Augen, als wollte er nun nichts erklären, nicht diese Sache und nicht jene verbleibenden Aufgaben, die auf den Schultern des ungezogenen Wesens ruhen.
Schalom, sagt er.
Schalom, sagt Eli und macht dazu eine Art Knicks. Wahrscheinlich war das jetzt wieder falsch, ein Knicks zu viel, ungehörig. So etwas sagt man wahrscheinlich nicht. Schalem. Eli weiß, so grüßen sich die Juden am Freitagabend, Schabbad Schalom, so haben sie sich begrüßt, früher, aber heute. Eli hätte dem Dekan gern etwas Gutes gesagt, etwas Tröstendes. Machen Sie sich nichts draus aus meiner Rückständigkeit, und entschuldigen Sie bitte: schalom.
Eli hat umgehend die Bude zu räumen, ihr Bett wird gebraucht, die Fakultäten Kamera und Regie sollen erweitert werden, denn das Fernsehen verschlingt neuerdings alles, was wir an ausgebildeten Künstlern haben. Im neuen Jahr steigt die Zahl der Immatrikulierten.
Das ist immer noch das größte Problem. Ein Bett. Wohnraum.
Das Paradiesbett in Dresden existiert nicht mehr, das Boudoir ist Antons Abstellkammer und Werkstatt für sein Ardi-Motorrad geworden. Und so soll es bleiben. Zurück, das geht nicht. Das ist ausgeschlossen. Der runde Tisch mit dem geblümten Wachstuch wäre zu klein für den Laokoon, die vielen Seiten, die sieben Kapitel. Er wäre nicht nur zu klein. Er wäre eine Katastrophe. Es ist nicht der Tisch, es ist Anton, seine Anwesenheit, die Wanderklamotten, seine Baderituale, seine gespielte Leichtlebigkeit, das falsche Gepfeife den ganzen Tag, der Gasgeruch in der Wohnküche, im Hausflur, eigentlichschon auf dem Neustädter Bahnhof. Die Stadt stinkt nach Gas, abstoßend. Abstoßend, der Gedanke an einen Unterschlupf im alten Nest, in einem Terrain, wo Dubberts wohnen, wo Henn herumgeistert, samt den anderen Krautern, den Experten und Kundlern der Vogelwelt und der Sachsenflora, Henn samt dem geizigen Geblühe der Wasserrose im großen Glashaus. An das Geheul der Dubbertkinder jeden Sonntag darf Eli nicht denken, wenn sie oben auf den Waschbrettern knien müssen. Katholische Sünder. Obwohl die jetzt vielleicht alle schon aus dem Haus sind. Noch schlimmer die Stille oben, man weiß nicht, was geschieht. Wartet auf den schrecklich anheimelnden Tumult, das gewohnte Protestgeschrei. Schnuppert. Gasgeruch schwelt um die verbretterten Ruinen, die kaputten Barockfassaden und um den wiedererrichteten Wallpavillon, um die lieblich verrußten Engelchen, die allegorischen Sandsteinfiguren, er dringt aus alten Rohren, strömt aus Laternen, steigt aus Rissen im Straßenpflaster. Die Gasuhr in der Wohnküche stinkt, obwohl der Kasten nur noch gut ist für den Schuhputzkram, Anton kocht längst elektrisch, Gaslicht wurde schon nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft. Der Geruch hängt trotzdem noch in den Kleidern, besonders im Wintermantel, und in den Sofakissen. Man geht damit um, man lebt damit wie in heimischem Wetter. Man merkt das Wetter nicht. Es ist sowieso nicht zu ändern. Eli fürchtet sich vor der geliebten Stadt, sie hat Angst vor Antons besorgten Augen.
Nie wieder Heimat. Jedenfalls nicht heute oder morgen.
Vor dem Schreibtisch in der Wohnraumlenkung ist das die erste Frage.
Heimatwohnsitz.
Habe ich nicht, behauptet Eli. Soll sie sagen, dass
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