Sepia
Einzelheiten, Bestätigungen und Fragesilben, die meist ein ä oder nor enthalten.
Manchmal lacht man, weil man sich sonst fürchten würde,sagt Eli. Man lacht das Eigentliche kaputt, denn lachst du nicht, packt dich das böse Wesen.
Die Bäckerin schenkt Eli kein ganzes, aber ein ganzes halbes Brot. Der Bäckerin gefällt, dass die Jugend Humor hat.
Während Eli in ihre zugig kalte Höhle wandert, dreht sich ein Kampflied in ihrem Kopf. Es tönt wie von einer Schallplatte auf einem defekten Plattenspieler, vielleicht ist der feine Saphir des Tonarms an einem Fliegendreck in der Rille hängengeblieben. Eli marschiert im Takt. Das neue Leben muss anders werden als dieses Leben, als diese Zeit. Den Refrain singt Eli mit, erst solistisch, dann hinter der Fahrländer Windmühle zusammen mit den Krähen, lautstark im Chor. Die Beine treiben. Komm mit, Kamerad, steh nicht abseits, Kamerad, auf dich kommt es an, auf dich kommt es an, auf dich kommt es an kommt es an. Auf dich auf dich auf dich.
Ein Sprung über den Fliegendreck, danach geht es weiter im Text.
Ernst-Thälmann-Straße, Frau Gottschalk wohnt im Eckhaus Nummer 27. Die Baugerüste wurden bereits abgenommen. Es riecht noch nach Mörtel und Dreck. Vor jeder Wohnungstür sorgen Fußabtreter und Scheuerlappen für innere Reinlichkeit, für das Gröbste liegen feuchte Jutesäcke am Treppenfuß. Das Haus hat vier Stockwerke mit je drei Parteien. Frau Gottschalk wohnt im ersten Stock, also im einstigen Bereich der bessergestellten Leute.
Eli wartet vor der Tür, gehüllt in den warmen großräumigen Jägermantel, einen Strauß frostgeprüfter Winterastern vor der Brust, seitlich diskret ihr vollgepackter Rucksack.
Frau Gottschalk hat die Etagentür mit dem Ellenbogen aufgeklinkt, sie hält ein Nadelspiel mit Strickstrumpf in den aufgescheucht zitternden Händen, das Wollknäuel treibt am langen Faden hinten im Korridor, Frau Gottschalk juchzt, sieerkennt, erschrickt und freut sich über das Taggespenst, den Besuch, die Blumen, sie macht einen kleinen fröhlichen Luftsprung, so sticht sie die fünfte Strumpfstricknadel, nicht in den Haarknoten, wo die freie Nadel hingehört, wenn sie eine Strickpause macht, sondern ins rechte Ohr, aber glücklicherweise nicht bis ins Trommelfell, es hat nicht einmal weh getan. Keine Klage, nur helle Freude.
Weil so ein lieber Besuch vor der Tür steht. Sie sind es doch? Das Fräulein mit dem guten Hunger aus der Konditorei.
Ich bin’s. Eli übernimmt fürs Erste das gefährliche Strickzeug, sie begutachtet das rechte Ohr. Kein Blut. Eine gezielte Hörprobe ergibt, es ist wirklich nichts passiert. Jetzt höre ich vielleicht sogar das Gras wachsen. Frau Gottschalk trägt die Astern, packt den Gast. Kommen Sie doch endlich weiter.
Den Rucksack lässt Eli im Korridor. Eli zögert nicht lange, weil Zögern die Sache vielleicht noch schwerer oder gar unmöglich machen würde. Eli ist gekommen, weil sie in der Bäckerei Rudolph gehört hat, dass Frau Gottschalk übersiedeln will zu den Kindern ins Rheinland, und dann würde doch die Wohnung frei, die würde ihr zwar nicht zustehen als Alleinstehender, das ist klar, aber ein Zimmer zur Untermiete, wenn sie erst mal drin wäre, das müsste man ihr dann zusprechen, jedenfalls raussetzen dürfe man sie als Einwohnerin nicht mehr, man müsse sie als Untermieterin wohnen lassen oder ihr auf jeden Fall wenigstens eine andere Unterkunft nachweisen. Das ist der Trick. Weil es Verordnungen gibt.
Eli braucht jetzt eilig von Frau Gottschalk ein formloses Schreiben mit Unterschrift und vielleicht einem Stempel. Sie braucht ein Papier, welches ihr, der Bürgerin Rafaela Reich, das Einwohnen bei Frau Gottschalk gewährt, bestätigt oder verordnet oder befiehlt, und zwar ganz schnell, bevor ruchbar wird, dass Frau Gottschalk rüber zu ihren Kindern will, denn dann käme Elis Sache, unvollendet, leider zu spät, dann hätte die Wohnraumlenkungumgehend die Hand auf der ganzen Wohnung. Es wird ja sogar geredet, dass Übersiedlungsanträge von Rentnern, die guten Wohnraum aufgeben, schneller beim Meldewesen bearbeitet werden, es sei ja sogar so, dass manche Wohnungen schon einem Wohnungssuchenden, meist guten Freunden oder Leuten, die was rüberschieben, versprochen werden, bevor der Ausreisewillige fort ist. Eigentlich ist das sogar üblich.
Man muss jetzt schnell sein. Vigilant, wie der Dresdner sagt. Vielleicht sogar etwas vordatieren, zwei Wochen oder drei.
Sie sind ja ein ganz schlaues
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