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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Laokoon hat sie mitgenommen und Ludwigs Jägermantel. Den braucht sie dringend, denn der Herbst ist gekommen. Oktober und schon Nachtfrost. Die Dahlien in den Gärten sind hin. Die Winterastern sind frostweiß bezuckert. Eli hat die Laube mit Elektrisch, Fließendwasser und Kohleofen gemietet. Sie hat an einen Unterhändler des Gartenpächters bis Weihnachten im Voraus bezahlt, einen bösen Wucherpreis, fast so viel wie für ein Neubauhotel mit Frühstück. Gleich in der ersten Woche hat Eli Krach mit dem Vorstand des Gartenvereins. Übernachtungsverbot. Bei Einbruch der Dunkelheit werden die beiden Tore am Hauptweg abgeschlossen, danach darf sich kein Mensch, der Vorstand sagt: keine Sau, mehr im Bereich erwischen lassen. Die Vereinsordnung hängt deutlich genug an den Anschlagbrettern neben dem Haupttor.Eli darf kein Licht anschalten, darf das Feuer im Ofen nicht schüren, damit kein Rauch aus dem Dachrohr steigt. Sie darf sich im Dunkeln nicht blicken lassen. Einzig das Radio darf an sein, aber leise. Flüsterklänge, Flüsterstimmen. Eli hört leise das Nachtprogramm. Wiederholungen. Neues aus dem Theater. Eli hört Signale von Ludwig, besonders in den Sendepausen, in der Stille, im hohen Piepton, der die Frequenzen justiert. Lauter Verkündigungen. Zeitzeichen, viermal kurz, dann lang. Mit dem letzten Ton ist es fünf Uhr. Dann geht es leise, aber trotzdem mit Schwung in den neuen Morgen.
    Eli wandert am Mittag los, Richtung Potsdam, Alt Nowawes, Babelsberg. Bei Bäcker Rudolph gibt es Kaffee und Kuchen, dort sitzen die Babelsbergerinnen, dort sitzt Eli mit Schreibzeug, Streuselschnecke und Kaffee komplett. Die beiden Tischchen stehen, in die Ecke gezwängt, dicht beieinander. Eli lauscht mit beiden Ohren. Rentnerinnengeschichten, in denen Nachbarinnen zu ihren Kindern in den Westen übersiedeln wollen. Richtig umziehen, ganz legal, mit Möbeln und Katzen, das Sparbuch bleibt hier, auf Sperrkonto. Die Rentnerinnen schauen wohlwollend auf das Fräulein mit den Büchern und Heften. Hier ist es warm, und der Kaffee schmeckt nach Bohne. Die schöne Frau Bäckerin schneidet eine frische Linzer Torte, je nach Kassenstand und Laune, sechs- oder achtmal durch das Rund, nebenbei verkauft sie Rudolphbrot und schlesische Semmeln. Doppelte, besser gesagt. Frau Gottschalk erzählt von ihren drei Häusern, eins steht in Klosterfelde, also in einer Gegend für Berliner Sommerfrischler, das hiesige wird grade frisch verputzt, neurenoviert, wie es heißt, der altmodische Stuck wird abgeschlagen, das Treppenhaus wird von den grünen Jugendstilkacheln befreit und freundlich gestrichen. Frau Gottschalk wandelt ihre Ersparnisse in feste Werte. Jedenfalls die meisten. Sie hat Glück, nicht jeder hat Beziehungenzu Handwerkern, die zügig arbeiten und zügig kassieren. Geld spielt keine Rolle. Frau Gottschalk spendiert, Torte und Kaffee. Sie entnimmt ihrem Pompadour eine braune Flasche. Aus der Apotheke, Herzgold, sagt sie. Der Ausschank von Alkohol ist in einer Bäckerei ziemlich streng verboten, Schnaps wird nicht gerne gesehen. Zum Wohl. Auf die Gesundheit. Für jeden eine dicke Träne in den Kaffee.
    Eli wird nicht ganz schlau, worauf das mit der resoluten Kaffeetante hinauswill. Jedenfalls ist Frau Gottschalk kein Kind von Traurigkeit. Sie kichert, sie lacht. Eli berichtet von ihrer Wohnstatt im Grünen, im nasskalten Wintergemüse, in der Nacht jagt ein scharfer Wind das letzte Laub von den Obstgehölzen, am Morgen grinst zwischen schlafenden Krähen am höchsten Ast ein einzelner roter Apfel. Ein roter Hasenkopf. Frau Gottschalk lacht. Alles, was Menschenmund sagt, ist zum Lachen. So ist Frau Gottschalk siebzig geworden, durch zwei Weltkriege gekommen mit Mann und Kindern und Immobilien. Nun ist sie Witwe und Großmutter mit Häusern, die der Wohnraumlenkung unterstehen. Lustig, unternehmungslustig ist Frau Gottschalk. Sie macht immer das Beste draus. Aus den niedrigen Mieteinnahmen und den drei Badeöfen, die sie mit Kontingent für zwölf Mietparteien besorgt hat. Die Töchter sind vor 61 ins Rheinland gegangen, nach Rüsselsheim zu Opel.
    Frau Gottschalk lacht beinahe Tränen. Weil Eli manchmal ein sächsisches Wort sagt. Sie kommen wohl aus Sachsen? Eli weiß nicht, was daran eigentlich komisch sein soll. Nur weil so eine sächsisch vorgetragene Meinung nicht stolz oder gar erhaben klingt, sondern eher melancholisch, sogar fragwürdig, jedenfalls nicht rechthaberisch. Der sächsische Dialekt ist dialektisch, er besteht aus

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