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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Handlungsort Merseburg. Zeit: 1923, das Jahr der Kämpfe. Der kleine Sebastian möchte so ein tapferer Mann werden wie sein Vater. Grüne Paste fließt aus der Mine des Kugelschreibers auf das Papier. Eli schreibt grüne Buchstaben. Sätze. Eli schnuppert. Sie schreibt mit bebenden Nüstern.
    Es ist nichts für die graue Mappe. Es sind sieben Blätter zum Abgeben. Das richtige Maß. Allerdings Handschrift, obwohl Schreibmaschine angesagt war.
    Elis Herz klopft. Ihre Ohren glühen.
    Der Dekan muss in diesen Tagen Orient rauchen. Er braucht nicht mehr in der Anzugtasche herumzufischen. Die gelbe Pappschachtel liegt auf dem spiegelblanken Mahagonitisch. Er liest Elis Geschichte vor. Durch seine Orgelstimme bekommen die Sätze einen schweren Ton und Fremde, Druckerschwärze. Er erklärt, warum das eine gelungene Geschichte ist. Eli versucht, die bleischweren Augenlider offenzuhalten, sie lauscht verwundert. Dem Nachklang der Lesung und seinen Argumenten. Sie runzelt vor Müdigkeit die Stirn. Der Dekan hebt die Episode hervor, wo Vater und Sohn am Morgen vor dem Garderobenspiegel stehen. Wie der Sohn sich die Mütze genau wie der Vater aufsetzt. Der Dekan liest den Anfang noch einmal. Sätze wie aus einem Buch oder aus einer Broschüre, doch er hat nichts anderes als Elis Schreibpapier vor Augen. Ihre grüne Schrift. Die Redaktionsbaracke des Leuna-Echos. Eli riecht den Flur, Zigaretten. Kaffee. Bohnerwachs. Broschürenstapel. Sie sitzt grade auf ihrem Seminarstuhl, bleichgesichtig, mit bläulichen Augenringen. Der Dekan hat recht. Wenn er redet, hat er recht. Sie ist erleichtert. So muss man solche Texte lesen. Fremd, stark, wie gedruckt, man vergisst die grüne Schrift, die schwere Hand. Die Last, das giftige Blut in den Fingern.
    Siegfried Müller schaut mit blauen Augen über den Tisch zu Eli, väterlich stolz, denn er ist Led-Sek, also Leiter des Seminars. Er trägt Verantwortung für die Leistungskurve.
    Felix nickt einvernehmlich. Er gönnt Eli den schönen Tag, die gute Laune des Dekans.
    Ludwig schnauft, er rutscht auf dem zierlichen Polsterstuhl, hängt schief, schiefer geht es nicht, als beiße ihn ein Floh oder gar eine Schlange ins Hüftfleisch, fast bricht er zusammen unter dieser Pein. In der Pause schiebt sich Eli ahnungsvoll an Ludwigs Seite. Er kann ihr auf dem schönen Balkon mit derAussicht auf den Stacheldraht und die Soldaten am Ufer des Sees nicht entkommen. Du willst meine Meinung hören?
    Eli spürt das Blei in den Fersen, das bisschen Standfestigkeit, ihr windiges Stehaufweibchenschwanken. Scheußlich schläfrig, zum Heulen, der Bettlerinnenblick.
    Grün, sagt Ludwig, und ziemlich glatt gestrickt.
    Ich weiß doch, sagt Eli. Ludwig spitzt die Lippen. Der Scherz wird kein Scherz.
    Du tapferes, du süßes Kind, sagt er.
     
    Der Saal ist überfüllt.
    Die Sekretärinnen, der Pförtner, die Köchinnen sitzen in einer Reihe. Der Hausmeister schimpft, er als Verantwortlicher für Brandschutz- und Sicherheit müsste einschreiten, er müsste Ordnung schaffen, alle Fremden raus, die Angestellten haben eigentlich nichts in den Vorführräumen der Hochschule zu suchen. Aber er hat ja selbst schon seine Mütze auf ein Polster gelegt. Er will selbst mit gucken. Es läuft
L’année dernière à Marienbad
.
    Die Filmkopie muss sofort, wenn die letzte Rolle durch den Apparat gelaufen ist, wieder in Berlin abgeliefert werden. Das Auto vom Außenhandel steht vor der Tür. Eine schnelle Aktion, heimlich, gesetzeswidrig, ein Verstoß gegen das internationale Urheber- und Handelsrecht. Irgendjemand vom Filmaußenhandel in Berlin, der in einem Chefzimmer sitzt, hat, wie gesagt wird, einen Arsch in der Hose und ein Herz für Studenten, er kann sich denken, was den jungen Leuten hilft, was sie anregt und aufregt. Dieser Film und die Filme von Fellini und Antonioni und De Sica und Bergman, französische, polnische, tschechische, englische, japanische Filme. Pier Paolo Pasolinis
Mamma Roma
.
    Sternstunden. Zündende Funken. Wort gegen Bild. Montage der Gegensätze. Wir haben es geahnt, schon lange, schonimmer, man muss die verklemmte Tür aufreißen oder gleich durch die Wand gehen. Genau das, sagt Ludwig.
    Eli hat neben Ludwig gesessen. Seine Nachbarschaft, der raue Pullover, das war wie Medizin. Das beste Mittel gegen den Schlaf: solche Filme und Ludwigs Atem an ihrem Ohr.
    Du pennst doch nicht etwa?
    Kein Stück. Elis Erwachen.
     
    Im überheizten Flur der Tauber-Villa wartet ein Ehepaar, beide reisetüchtig in

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