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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Wir gehen mittags gemeinsam in die Kantine und dann pünktlich zurück an die Arbeit. Inzwischen bin ich firm, ich weiß, wo die passenden Formstücke liegen und wie sie eingesetzt werden müssen. Ich hole mir die Aufträge aus der Meisterbude und lege los. Einmal in der Woche habe ich nachmittags frei. In dieser Zeit sitze ich als Praktikantin im Archiv vom Leuna-Echo. Der Chefredakteur erwartet, dass ich einen Artikel schreibe. Vielleicht über die Klassenkämpfe von 1923. Ich habe viel darüber gelesen. Leider finde ich im Archiv keine Wetterberichte. Nichts über den Himmel in diesen revolutionären Tagen. Kein Wort über Wolken.
     
    Obwohl aus dem Artikel nichts geworden ist, hat Eli am Ende ihrer Zeit im Leuna-Kombinat vom Chefredakteur des Leuna-Echos ein Buch überreicht bekommen.
Der Weg nach Lhasa
vom Artia-Verlag. Ein schwerer Bildband. Zur Erinnerung an dein Praktikum und als Dank für fleißige Mitarbeit.
    Bleierne Müdigkeit, das ist keine Rede, das ist die Wahrheit. Blei kriecht im Blut.
    Eli liegt im Internatsbett, sie schläft. Der Tisch steht mit seinen drei Stühlen wieder in der Mitte. Das macht die Putzfrau. Sie sorgt für einen ordentlichen Start, Möbel abgewischt, Papierkorb leer und an Ort und Stelle, frische Bettwäsche, gekehrte Stuben. Fenster zu. Die beiden ProduktionsstudentinnenAnke und Sandra waren einem Drehstab an der Ostsee zugeteilt worden. Sie hoffen, dass sie wieder hinfahren dürfen. Den hiesigen Debatten entgehen. Die Sonnenbräune vertiefen. Von Schönefeld aus fliegt jeden Tag eine Antonow, sie landet auf einem Stoppelacker in Ahrenshoop, bringt Schauspieler an den Drehort, Rohfilm, ein besseres Objektiv, neue Mitarbeiter. Alles für die Musikfilmkomödie
Das verhexte Fischerdorf
mit Lutz Jahoda.
    Anke und Sandra sind auf dem Sprung. Sie haben für Eli Bohnensuppe aus der Mensa mitgebracht. Der Topf steht auf dem Tisch.
    Eli, willst du nicht aufstehen? Eli unternimmt einen Versuch, steckt die Füße in die Sandalen, lässt sich gleich wieder fallen.
    Ich schlafe, sagt Eli. Sie dreht sich zur Wand. Anke und Sandra schnappen die karierten Campingbeutel, sie hinterlassen ein stilles Quartier. Eine sturmfreie Bude.
     
    Siegfried Müller sitzt am Tisch in der Mitte des Zimmers, er wartet immer noch geduldig, er hat die Zeitung gründlich gelesen, als sich Eli endlich in ihrem Bett ein wenig bewegt. Sie atmet.
    Siegfried raschelt deutlich mit dem Papier. Eli gähnt. Siegfried packt die Gelegenheit, ein Blick auf die Taschenuhr, die aufgeklappt auf dem Tisch liegt. Es ist achtzehn Uhr dreizehn.
    Eli, wir hatten heute den ganzen Tag Seminar. Wir fangen jetzt montags eine Stunde später an, weil ich mit dem Sputnik über Karlshorst fahren muss. Ludwig zieht ins Internat zu den Kamerastudenten, und Felix kommt wahrscheinlich nur noch einmal im Monat.
    Siegfrieds Stimme raunt, während eine Fliege den Suppentopf umschwärmt. Es ist nicht zu ändern. Für die Pausen bleibt uns immer noch der Balkon. Wenn’s gutgeht, fügt er hinzu.
    Eli lächelt. Vielleicht lauscht sie der summenden Fliegenach, vielleicht kommt ihr die Stimme bekannt vor, Siegfried, bist du hier und wo bin ich, vielleicht denkt sie an Ludwig, an seinen Umzug, sein neues Quartier.
    Unten am Ufer vom Stalin-Haus liegt Stacheldraht, alle fünf Minuten patrouillieren Soldaten. Der Hausmeister schimpft mit den Studenten, dabei sind es die Grenzer gewesen. Sie trampeln quer durch die Rabatten mit den Winterastern und werfen Kippen auf den Weg. Der Liegeplatz vom Paddelboot, abgesperrt. Das Boot ist verschwunden. Ob einer noch getürmt ist? Oder die zuständige Sicherheit hat das Boot konfisziert. So wird es wohl sein.
    Eli, hörst du mir zu? Der Dekan hat unsere sieben schöpferischen Seiten zurückgegeben. Er hat deine vermisst.
    Siegfried Müller schweigt, er vernimmt ein leises Grunzen, dann ein rhythmisches Pusten. Schlaf. Eli, hörst du mir zu?
     
    Eli liegt nicht mehr im Bett. Sie hat Tisch und Stuhl wieder in die Position unter das Fenster geschoben. Sie verbringt die Zeit im Sitzen. So senkt sich das Blei. Es sammelt sich in den Fersen. Sie hält einen Kugelschreiber unter die Nase und dann eine Tube Klebstoff, das schnelle Kittifix. Kugelschreiber riecht am besten. Um Mitternacht schlägt sie die Fensterflügel auf. In der mittleren Pappel blinzeln zwei Lichter, es sind die Augen einer Eule. Eli schreibt mit Kugelschreiber. Die Überschrift groß, gut lesbar. Antwortzeichen. Eine Vater-und-Sohn-Geschichte.

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