Sepia
geht, weil er in Berlin wohnt und als Vater in der Familie gebraucht wird, in ein Ministerium, dort soll er die Königsebene studieren. Felix Wagner ist seit zwei Monaten beurlaubt, nun sogar vom Praktikum befreit, er wird wahrscheinlich gar nicht mehr persönlich aus Wien zu uns kommen. Er schickt Briefe an den Dekan. Er schreibt flotte Satiren über allgemein menschliche Probleme, Artikel, die manchmal auch im Eulenspiegel erscheinen. Ludwig Zweig will unbedingt nach Aue oder nach Senftenberg, also Wismut oder Braunkohlentagebau, wo viel gesoffen wird und geprügelt. Das Milieu soll zu seinem optimistischen Theaterstück passen. So behauptet er, und er behauptet eine Krise, die er nicht auf den Punkt bringen kann. Er widerspricht dem Dekan und hält sich an Aristoteles, also an Sachen, die er bei Schubert im Seminar gelernt hat. Man muss das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, dem Möglichen, das glaubhaft ist, vorziehen. Jedoch darf man den Stoff nicht aus unglaubhaften Teilen aufbauen.
Er streicht sich das Kinn. Wenn aber der Dichter das Unglaubhafte verwendet und es offenbar in einer Weise behandelt, die es wahrscheinlicher macht, dann muss man auch Ungereimtes hinnehmen. Vor allem das Ungereimte.
Erwin Schubert referiert das letzte Aristoteles-Kapitel. Er spricht anders als sonst, er redet, als müsste er sich beeilen, aus menschlichen oder zeitlichen Gründen. Über die Tragödie und die epische Dichtung, über ihre wesentlichen Elemente und Teile – wie viele es sind und worin sie sich unterscheiden –, welches die Ursachen sind, aus denen sie entweder gut sind oder nicht, und dass es keine Hinterlassenschaft von Aristoteles zur Komödie gibt. Leider nicht. Schubert redet über den Verlust des einst Gedachten und sogar Aufgeschriebenen. Er wandert durch den kleinen Seminarraum. Dann dreht er auf dem linken Absatz seine Gabi-Seyfert-Pirouette.
Es ist das übliche Ritual am Ende der für alle Fachrichtungen offenen Vorträge, bevor die Kamerastudenten mit ihren peinlich naiven Fragen kommen. Es ist ein Mittwoch wie jeder andere, und doch ist von Anfang an irgendetwas verkehrt. Schubert redet anders. Er spricht in die Hand.
Elis Blick verweilt gedankenverloren auf dieser Hand. Komödie, Tragödie, Aristoteles, wichtiger ist, ob er ihren Namen endlich parat hat, jetzt in diesem Augenblick, ob er weiß, wie sie heißt, wer sie ist, was ihr fehlt. Ob ihm etwas fehlt? Hat er Zahnschmerzen?
Ludwig flüstert: Fällt dir was auf?
Was denn?
Der Bart ist ab.
Tatsächlich, Schuberts Bärtchen ist verschwunden. Auf Verlangen, flüstert Ludwig. Der Dekan hat es verordnet.
Keine Zahnschmerzen, das ist gut. Kein Bart mehr, das will Eli bedauern. Die Narbe am Kinn ist nun veilchenklein und bescheiden am Tage. Vor aller Augen, nackt, sichtbar der einzige Makel des wissenschaftlichen Assistenten.
Der Bart ist ab, er ist ab, weil der Dekan es gewollt hat, eine Frage des klassenkämpferischen Taktes. Der bärtige Generalsekretär mag Bärte im Gesicht anderer Leute nicht leiden.Nicht einmal das Wort mag der Generalsekretär hören. Bart. Der Bart ist ab. Armer Schubert.
Eli schiebt sich an seine Seite. Jemand hat schon eine schlaue Frage gestellt. Kann es nicht sein, dass nichts verloren ist, weil es gar nichts gab. Schubert widerspricht, er spricht hinter vorgehaltener Hand vom berühmten sechsten Kapitel der Aristoteles-Poetik, das der Philosoph in Vorbemerkungen bereits angekündigt hatte, in diesem Kapitel habe er die Gesetze der Komödie niedergeschrieben. Grundregeln, Varianten, Handwerk, alles. Und eben das Kapitel sei, leider, in den Schussligkeiten der Jahrhunderte verlorengegangen.
Noch eine Frage?
Aus dem Kameratrupp tönt der mit dem letzten Wort.
Die allermeisten Sachen gehen verloren. Sachen und Bedeutungen verschwinden, übrig bleibt meist Mist. Und damit wird dann Geschichte geschrieben. Schubert überhört die Anmerkung. Die Kamerastudenten verschwinden.
Noch eine Frage? Schubert wartet. Er sucht nach dem Namen. Fräulein. Jugendfreundin. Rafaela Reich. Alles klar?
Eli würde dem Assistenten gern etwas schenken. Als Trost für den verlorenen Bart. Vielleicht
Liebesgedichte aus acht Jahrhunderten
mit Vignetten und Illustrationen von Max Schwimmer. Die andern sind fort. Eli steht nun allein vorn an Schuberts Tisch. Sie traut ihren Ohren nicht und genauso wenig ihrer eigenen Zunge. Worte kommen aus ihrem Munde, die sich zu keiner gehörigen Seminarfrage mehr hinbiegen lassen.
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