Sepia
Wäscheleine, baumelnde Klammern. Drüben am Steinplatz läuft im Original
L’année dernière à Marienbad.
Heute wäre vielleicht noch eine Möglichkeit, eine letzte Chance vor dem Spielplanwechsel. Heute und dann nimmermehr, rien ne va plus. Eli würde ihre Sachen ausziehen, im Faltboot verstauen, das beim Stalin-Haus unten am Ufer festgemacht ist. Sie würde den Haltestrick zwischen die Zähne klemmen, dann im Sichtschatten hinüberschwimmen. Auf dem See ein herrenloses unschuldig treibendes Boot, die Studenten-Titanic. Vom Wind bewegt, vom Wasser getragen. Drüben würde sich Eli anziehen, das Boot anbinden und ins Kino wandern und nach der Vorstellung auf nämlichem Wege zurück.
Eli verscheucht eine Mücke und auch die kühnen, leichtlebigen Gedanken. Gut, dass Erika eine Weile in Rom bleibt, wenn sie in drei Wochen wiederkommt, wird der Frieden gesichert sein und die S-Bahn wieder fahren. Man muss Geduld haben, drei Wochen abwarten, das wird uns gelingen. Eli pflückt die verwitterten Klammern von der Wäscheleine. Enricos Windelleine. Jetzt im August feiert man in Rom das Fest des Augustus. Man trinkt Wein und Zitronenlikör. Limoncello. Erika hattean einem Abend einen salzigen Kuchen gebacken, obendrauf Tomaten, Zwiebeln und Rügener Camembert. Pizza, so heißt das. Das isst man in Rom jeden Tag.
Eli packt den Rucksack. Drei Wochen Praktikum in Leuna. Sie holt sich im Sekretariat das Schreiben des Kombinats mit den Einweisungspapieren. Frau Gieram hat sehr wenig Zeit für Eli. Gut, dass Sie kein Mann sind, und gut, dass die meisten Studenten schon im Praktikum stecken. Wer hier ist, muss in die Kampfgruppe. Frau Gieram macht ein bekümmertes Gesicht. Eigentlich müssten wir längst eine Kampfgruppe haben, aber wir haben keine.
In der Mensa liegen Gewehre und Uniformen, an der Fensterwand eine Reihe Feldbetten. Zwei Studenten von der Akademie für Staat und Recht stehen als Kommandeure bereit, vorläufig lümmeln sie auf den Betten. Wir müssen Sicherungskräfte zusammentrommeln. Wer erreichbar und Manns genug ist, wird mit einer Knarre versehen und muss an den Schutzwall. Der Schritt in den Westen heißt dann Fahnenflucht und kostet womöglich Kopf und Kragen.
Gute Reise, Rafaela Reich, erfolgreiches Praktikum.
Der Pförtner steckt den Kopf durchs Fensterlein: Unten im Park, die Brücke über den Kanal ist noch offen. Bestimmt nicht mehr lange.
Ich fahre nach Leuna, sagt Eli.
Ach so, sagt der Pförtner. Ich dachte bloß.
Eli reicht dem Pförtner die Haus- und Zimmerschlüssel. Bis bald, sagt Eli, und dann stockt ihr Atem. Der Verstand steht still. Wer da? Hinter Elis Rücken, in Drillichanzug, mit Koppel und Schießgewehr, Erwin Schubert, der Assistent. Eine widernatürliche Wandlung. Notstandsbefohlene Metamorphose. Statt Jungbrunnen, ein Sumpf. Ein Schussel, denkt Eli. Als Assistent in kaffeebraunem Cordanzug in die Mensa gegangen,als Soldat herausgekommen. Sie denkt an den Traum, da war er ihr in einer roten Dreieckbadehose erschienen.
Guten Tag, Doktor Schubert.
Guten Tag. Er strebt vorbei und nur noch, verbindlich eilig, nach vorn. Es fällt ihm der Name der Sachsenfee wieder nicht ein. Er will ins Freie, wenigstens hinaus aus dem engen Einlassbereich mit dem Pförtnerfenster, dahinter die Briefe und Fundsachen, die Mitteilungen, Raumverteilungen und Vorführzeiten der Studentenfilme, Prüfungstermine. Schnee von gestern. Heute gilt nichts. Er will an die Luft. Er geht auf und ab. Vor dem Haupteingang des Verwaltungshauses, wo die Busse halten. Zigarettenkippen wie gesät und das Schild Babelsberg-Nord.
Eli hat den Rucksack geschultert. Sie würde gern eine Frage stellen. Balzac, der bürgerlich-kritische Realismus, das Wissen liegt ihr wie Seife auf der Zunge. Der Bus hält. Eli steigt ein, hinten, so kann sie durch die Rückscheibe seinen Blick erhaschen. Der arme Doktor Schubert. Der kluge Erwin. Er hat die rechte Hand gehoben und mit den Fingern eine Bewegung gemacht, dann hat er versucht, auf dem Absatz eine halbe Gabi-Seyfert-Pirouette zu drehen, wie manchmal auf dem Parkett im kleinen Seminarraum. Es sollte kein Stolperschritt werden. Die Finger winken. Auf Wiedersehen, Eli.
Ganz hinten in der Straße in Höhe Stalin-Haus hastet Siegfried Müller herbei. Mit der Taschenuhr in der Hand. Er eilt zum Termin, folgt einem Telegramm. Stellplatz Mensa im Verwaltungsgebäude. Einsatzort Sicherung der Staatsgrenze. Er ist auf kompliziertem Umweg angereist. Wo mag Ludwig sein? In
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