Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
Vom Netzwerk:
irgendeinem Lampengeschäft von Berlin, da arbeitet seine Mutter, da in der Nähe wohnt er und schreibt seine aktuelle Königskindergeschichte. Eli müsste jetzt sämtliche Lampengeschäfte, Lichthäuser und Leuchtengenossenschaften in Ostberlin abklappern, um Ludwig zu finden. Bleib, wo du bist,und rühr dich nicht. Eli fährt voller Sorgen nach Leuna. Sie fährt mit gepresstem Herzen, so hat sie es in einem Roman gelesen. Das gepresste Herz.
     
    Lieber Anton!
    Es ist eine andere Welt: Fabrikhallen, Schornsteine, Gleise, Kesselwagen und Waggons. Rohre, kilometerweit. Es ist eine Welt aus T-Stücken, Kreuzen, Flanschverbindungen und Drosselklappen, Tag und Nacht tropfend und dampfend. Die Schornsteine qualmen gelb oder lila, aus manchen Schornsteinen schlagen Flammen, das sieht aus, als hätte einer überall riesige Fackeln aufgestellt. Eigentlich schön, aber es stinkt.
    Frühmorgens, wenn mein Schichtbus die Höhe erreicht hat, erscheint vor dem dunklen Himmel das gelbviolette Farbenspiel. Man riecht, woher der Wind weht. Schwefel bedeutet, der Wind kommt von Süd, Ostwind riecht nach Ammoniak und so weiter.
    Ich arbeite in der F 12. Man muss vom Haupttor aus mit dem Werkbus noch drei Haltestellen fahren. Zu Fuß läufst du dich tot, nicht weil es zu weit wäre, ich schätze, nicht länger als eine halbe Stunde, sondern weil du unter den Rohren zu viel von der Brühe und vom Dampf abkriegst. Wir machen Spezialbehälter aus Kunststoff für andere Abteilungen des Kombinates. Vor allem aber Dichtungen, die aus Blei, das wie schwarzes Mehl aussieht, und aus Gummimasse gefertigt werden. Die richtige Mischung garantiert Festigkeit und Elastizität. Wir haben sehr viel zu tun, man sieht auf den ersten Blick, dass überall im Werksgelände Dichtungen fehlen. Wo was tropft oder ein kompliziertes Gefäß kaputt ist, da müssen wir ran. Die Blei-Gummi-Mischung wird in der Formerei durch verschiedene Formstücke gepresst. So entsteht das richtige Profil. Manchmal werden Meterstücke gebraucht, manchmal Ringe. Zum Formen muss das Material heiß sein. Wenn das Stückfertig ist, zieht man es durch ein Wasserbad. Wir haben große Becken dafür. Nach dem Kühlen und Trocknen wird das Teil mit Bleimehl bestäubt. Dann geht es zur Kontrolle und zum Transport.
    Oft bin ich ziemlich fertig am Abend. Meine Beine sind wie zwei Blutwürste so dick und blau, und die Augen brennen. Ich wohne zur Miete in einem Siedlungshaus am Ortsrand von Dürrenberg. Es ist nicht weit, eine Anhöhe bei Leuna, etwa zehn Kilometer. Wenn ich heimkomme, falle ich erst mal ins Bett. Ich schlafe, als wäre ich schwer betrunken. Gegen Mitternacht wache ich auf. Neben mir auf dem Ehebett liegt schon die Arbeit. Aufzeichnungen aus der Geschichte der Fabrik. Wie man Ammoniak aus dem Stickstoff in der Luft gemacht hat. Und warum. Auch Eisenstein wollte ich lesen. Das kann ich nun nicht mehr, denn meine Wirtin hat die elektrische Sicherung rausgeschraubt, somit habe ich kein Licht. Die Wirtin meint, ich soll am hellen Tag lesen und nicht zur Schlafenszeit, das geht unnötig ins Geld. Ich habe ihr vorgerechnet, was eine 40-Watt-Birne zwei Stunden mal 21 Tage an Stromgeld kostet. Knapp 14 Pfennige. Für eine Mark könnte ich einen Monat die ganze lange Nacht unter einem Kronleuchter lernen. Sie will es nicht glauben.
    Gestern habe ich im Werk einen Kunststoffbehälter geschweißt. Man sägt sich Platten zurecht, setzt die Bindeschnüre und schweißt die Teile mit einem Brenner zusammen, oder man macht die Platten in einem Schamottofen heiß und versucht, mit verschiedenen Presseisen eine bestimmte Form zu gestalten. Wegen meiner Blutwurstbeine und der Ameisen in den Händen, habe ich mich mal während der Arbeit auf eine Kiste gesetzt, da kam der Brigadier angerannt, die Bestimmungen untersagen das Kistensitzen. Der Arbeitsschutz lässt das nicht zu. Er hatte auch gleich einen eiligen Auftrag. Dichtungen für einen Säurekanal. Man kippt verschiedene Pulver, Kanistermit Lösungsmittel in einen Kessel. Setzt den elektrischen Quirl ins Gemenge. Rührt den Teig, bis er gummiartige Bänder zieht, nicht mehr reißt und auch nicht mehr am Quirl klebt. Am Anfang riecht der Brei gut, wie Mandelpudding. Dann wird mir jedes Mal schlecht.
    Der Brigadier hat gezählt. In sechzig Minuten, also innerhalb einer Stunde, sei ich dreimal verschwunden. Nun reiche es aber. Die anderen haben getröstet: Mach dir nichts daraus, wenn du aufs Örtchen musst, musst du. Es sind nette Männer.

Weitere Kostenlose Bücher