Sepia
Staubmantel und in Baskenmütze. Sie warten, obwohl schon das Notwendige getan ist, sie warten einfach noch eine Weile, vielleicht klärt sich noch etwas auf, etwas, das den beiden oder zwischen den beiden ein Rätsel ist. Erika. Es sind ihre Eltern. Sie sind aus Halle gekommen, um die Sachen der Tochter abzuholen, das Zimmer muss geräumt werden, weil der Internatsplatz gebraucht wird.
Ein aufgescheuchter Studentinnenschwarm schwirrt an den beiden Besuchern vorbei. Rücksichtslos, atemlos. Laut. Eli taumelt in schwarzweißen Bildern, dazu in Ludwigs kumpelhafter Umarmung. Sein Schlag auf ihrer linken Schulter, der warme milchige Atem, seine Nase an ihrem Ohr. Mon Amour. Es ist ein kurzer Weg vom Kinosaal in die Unterkünfte. Ein Umsturz, eine Warmfront liegt in der Luft. Jemand erfindet ein neues Kino. Revolution. So was geschieht nicht oft, aber daraus besteht das tägliche Leben.
Fräulein Rafaela?
Ein Vater, eine Mutter, Erika hatte nie von ihren Eltern gesprochen. Vielleicht weil sie Rücksicht nehmen wollte auf Eli, die Elternlose. Das Großvaterkind.
Erikas Mutter erklärt, dass sie auf gut Glück gewartet haben und jetzt froh sind, sie trocknet schnell eine Träne. Der Vater reicht seiner Frau ein Foto, sie gibt das Foto weiter an Eli. Eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein Brunnen.
Ach, Erika, sagt Eli.
Das musste nicht sein, kommentiert der Vater.
Sie können das Bild behalten, sagt die Mutter. Dann nimmt die Mutter das Gepäck, den kunterbunten Korb. Darin hat Enrico geschlafen, der Enkelsohn. Es ist das, was besorgt werden muss. Mehr war wohl nicht, mehr ist jetzt wohl nicht zu tun.
Ach, das Radio, sagt Eli. Sie ist auf dem Sprung, Erikas Radio herbeizuholen.
Der Apparat bleibt hier bei Ihnen. Die Mutter hat nun wieder ihre lebenstüchtige Meinung. Das braucht nicht mehr lange. Das wird sich bald normalisieren.
Was denn, wie denn? Der Vater blickt beleidigt auf den großen Koffer. Wer ist schuld, dass er den nun schleppen muss? Der Kerl in Rom, die Weiber, seine Frau samt der eigentlich sonst cleveren und hochbegabten Tochter. Oder der Russe.
Der Russe wird einlenken.
Ob wir das noch erleben.
Und was kommt dann?
Eli hätte gerne etwas Gutes gesagt. Vom Abenteuer im dunklen Saal, von der schwarzen Mama. Von himmlischer und irdischer Fügung, wie Eli die Kunst der Montage versteht. Von Sprache und Musik.
Wolken ändern ihr Gesicht, sagt Eli. Sie stockt.
Sie hält Erikas Eltern die schwere Tür auf. Ein Vater, eine Mutter, wie sie die Sachen der Tochter aus dem Hause tragen. Eli rennt die schön geschwungene Treppe hoch. Der REMA Trabant hat eine lange Teleskope-Antenne, wenn man die auszieht und die Richtung findet, kann man womöglich
Brown Eyed Handsome Man
hören, um so die neidische Sehnsucht endlich einmal richtig fertigzumachen. Mama und Papa, man muss irgendeine Flucht ergreifen. Ich flüchte, ich fliehe, fort von dem, was vorher war. Flüchtigkeit. Hinter den Pappeln die Wolken fließen zusammen wie graue Soße.
Lieber Anton,
von früh bis abends laufen drei Apparate im Projektorraum, einer für Schmalfilm, einer für Normalfilm und der für Cinemascope. Drei Vorführer arbeiten Schicht. Manchmal bedient einer gleichzeitig den großen und den kleinen Saal. Filmvorführer ist ein wunderbarer Beruf. Wenn ich das könnte, wäre ich schon froh.
Im großen Saal haben wir jetzt statt der Holzklapperstühle sehr bequem gepolsterte Sessel. Vor den Fenstern hängt schwarzes Tuch, man sieht nicht, aber man weiß ja, was draußen ist: ein See und Stacheldraht. Ich habe einen Stammplatz in der fünften Reihe genau in der Mitte, dort sitze ich mit meiner Milch. Für den, der bezahlt hat, steht eine Flasche frühmorgens vor der Mensa im Kasten bereit. Ich habe bezahlt. Ich kühle die Hände. Ich wärme die Milch. Ob ich allein im Saal bin oder ob noch andere in den Sesseln sitzen, merke ich nicht. Manchmal, wenn keine Zeit bleibt, geht das Licht zwischen der einen und der nächsten Vorführung gar nicht erst an. Die Tage sind Nächte, und es ist warm. Man kann sich wie ein Ei ins Polster hocken, die Gedanken sinken. Nur das Auge bleibt wach. Das Ohr hört Geräusche, Dialoge verschwinden in der Musik. Der schwarze Plüsch ist bei Licht eigentlich rot. Wenn der Film nichts taugt, schläft man wie ein Kind in der Wiege und träumt sich seinen eigenen Film, und das Träumen ist eigentlich der Beweis: Film ist die älteste Kunst der Welt.
Aber gestern war ich auf meinem Mittelsitz in der fünften
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