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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Reihe ganz wach. Ich habe einen Film gesehen, der nicht, wie üblich, von Sachen erzählt, die es gar nicht gibt, nämlich Geschichten, die einen Anfang und ein Ende haben. Der Raum ist frei von allem außer der Leere. Der Film heißt
L’éclipse
, also: Sonnenfinsternis.
    Eine Regentonne.
    Ein Haus, um das ein Baugerüst steht.
    Ein Baum, in dessen Blättern der Wind spielt.
    Ein Rasensprenger.
    Leute an einer Bushaltestelle.
    Wasser im Rinnstein.
    Ein Zeitungsleser.
    Die Überschrift auf der ersten Zeitungsseite. Italienisch, denn es ist ein italienisch-französischer Film:
La pace è debole
, in weißen Buchstaben, die Übersetzung: Der Frieden ist schwach.
    Ein schweifender Blick über eine Hausecke. Das ist ein Kameraschwenk, das ist das suchende Auge, wie es darauf wartet, dass etwas passiert. Doch die Welt existiert ohne Geschichten. Es sind die Möglichkeiten, die im Kino aufleuchten. Der Abend bricht an. In der Dunkelheit glimmt ein Licht. Eine Straßenlaterne flackert. Buchstaben ergeben ein Wort.
    Die Ohren klingen in dieser Stille.
    Man kann im großen Vorführraum gut übernachten.
     
    Das Blei im Blut macht durstig und dauermüde. Es lastet auf den Augenlidern. Es sammelt sich in den Fersen. Inzwischen darf sich Eli noch auf andere Krankheiten berufen. Sie stolpert über die eigenen Beine, sie ist Pazifistin. Sie kann nichts dafür, wie sie für das Blei im Blut nichts kann, die Bleivergiftung ist eine Folgeerscheinung des Praktikums in der Bleigummiabteilung der Leuna-Werke. Elis Pazifismus ist eine Kinderkrankheit. Diese Krankheit gilt bei ihr unterdes als unheilbar. Alte, chronisch schmerzende Brandwunden. Eli hat sich das Leiden als Kind in Dresden während der Bombenangriffe geholt. Vielleicht hatte sie sich bereits in Schlesien infolge der Todes- und Vermisstenmeldungen von Vater und Mutter, Onkel Gerhard, Onkel Siegfried und Onkel Kurt einen Infekt zugezogen, einen seelisch-körperlichen Defekt, der schwerer und schwerer wurde und schließlich durch die Brandwunden chronisch an ihr hängenblieb. Die Krankheit war zum ersten Mal heftigmit Erbrechen, Schwindelgefühl und Nachtschweiß zum Ausbruch gekommen, es war an dem Tag, als ein Junggärtner, gestern noch Spezialist für Moorbeetkulturen, plötzlich in einer blauen Uniform mit Koppel, Pistolentasche, Soldatenmütze, blanken Stiefeln auf dem Hauptweg zwischen den Glashäusern schwadronierte. Er arbeite ab heute nicht mehr im Zierpflanzenbereich, er stehe von nun an als Kasernierter Polizist auf Friedenswacht.
    Das gibt’s nicht, hatte Eli gestottert, es heißt doch: Nie wieder ein Gewehr in deutscher Hand. Das haben wir doch geschworen.
    Wer soll denn sonst, deiner Meinung nach, auf Friedenswacht stehen.
    Niemand. Keiner. Hier nicht und nirgendwo.
    Dabei sollte es bleiben. Damals in der Schule, später in den Gewächshäusern und heute im schönen Bezirk Potsdam.
    Siegfried Müller hat lange in seiner freundlich nachsichtigen Art mit Eli geredet. Und wenn sie dir dein Liebstes nehmen. Schließlich hat er das Gedicht vom bewaffneten Frieden vorgetragen. Und mit gerechtem und ungerechtem Kampf argumentiert. Und Beispiele angeführt. Spartakus in Rom. Thomas Müntzer im Bauernkrieg.
    Eli bleibt stur. Niemand soll sich bewaffnen.
    Da war es dem Geduldsmenschen schließlich entfahren.
    Eli, Eli, so fromm wie du durften nicht einmal die Urkommunisten sein. Du leistest dir viel.
    Damit Elis Schwäche nicht als Meinung die Runde macht, haben erst Siegfried Müller, knirschend, dann der Assistent Erwin Schubert, in stillem Einvernehmen, danach der Dekan, eingedenk der Leistungskurve, die Arbeiterkind Eli hingelegt hatte, und schließlich die Teilnehmer einer Studentenversammlung zum Thema
Freiwillige zur Volksarmee
Elis Pazifismus als eine unheilbare Krankheit akzeptiert. Im Kindesalterverschüttet worden. Das macht sich immer noch im Kopf bemerkbar. Hormone überschwemmen das Hirn, beschädigen Hippocampus und Amygdala. Plumbum in den Fersen, Pax im Kopfe. Besser eine Krankheit als eine Meinung.
    Eli wird künftig verschont. Sie soll viel Nudeln und Kartoffelbrei essen, ab und zu mal ein Ei, und vor allem Milch trinken, die bindet medizinisch erwiesen die Schwermetalle. Das nächste Praktikum, so bestimmt der Dekan, soll Eli in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft absolvieren. Nicht irgendwo im Zentrum, eher an einer Vorgebirgsperipherie, wo sich die restlichen antagonistischen Widersprüche in der Idylle verlieren. Siegfried Müller

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