Sepia
Erkenntnis ist der Irrtum.
Das Wohnheim der Studenten für Kamera und Produktion befindet sich in einer Villa am Berg. Ein Gemäuer, so einfach wie sonderbar. Ein Ostasienexperte hat sich das Haus nach dem Ersten Weltkrieg bauen lassen. Es heißt, er sei beizeiten, noch vor den Nazis, auf und davon. Kein Lebenszeichen von ihm. Geblieben ist das Gemäuer mit rätselhaftem Schmuck. Löwen mit Taotieköpfen über der Haustür. Ein Fries unter dem tiefgezogenen Dach. Spitzwinklige Dreiecke, Wimpel, ein wiederkehrendes Motiv. Zikaden? Geblieben sind nackte Wände, Parkettböden, Fliesen in Badezimmern und in der Küche. Man hat neue Rohre für die Heizung, für Frisch- und Abwasser durch die Salons und Wintergärten verlegt, Rippen aufgehängt und in den Etagen zusätzlich Toiletten mit Druckspülern eingebaut. Ein Heizer dreht die Runde von Haus zu Haus, von Kessel zu Kessel. Auf den Braunkohlehaufen liegen Raffer und Karren. Durch die Kellerfenster führen Laufbänder oder Rutschen. Wenn der Heizkesselthermostat die Klappe nicht selbsttätig schließt, kocht das Wasser in den Kesseln. Es könnte sein, dass es knallt. Freitags werden die vollen Aschentonnen abgeholtoder ausgekippt. Jedenfalls sind freitags die Asche- und Mülltonnen leer.
Ludwig wohnt seit Beginn des neuen Studienjahres ganz oben im Asienhaus. Sein Fenster liegt eingebunden in den Fries, der unterm Dach um das Haus herumläuft. Es sind Zikaden, eindeutig. Ungezähmte Tiere, eingeschlossen im wiederkehrenden Dreieck.
Die Hausordnungen sind von den Mitteilungstafeln aus den Fluren der Internate verschwunden. Ein stiller Held hat die Zettel überall abgerissen, auf denen mit Tusche geschrieben stand, dass die Studenten in den Studentinnenhäusern nichts zu suchen haben, kein Aufenthalt in den Räumen der Studentinnen. Die Hausordnung gilt auch andersherum. Studentinnen ist der Aufenthalt in den Wohnräumen der Studenten untersagt. Man kann sich zur Not dumm stellen. Besser ist, man lässt sich was einfallen.
Am besten man hat etwas Triftiges vorzuweisen. Vor sich selbst oder später vor dem Sekretariat für Studienangelegenheiten. Eli auf dem Weg ins Ostasienhaus. Die Schreibmaschine ist kaputt. Das Eff klemmt, der Typenhebel fällt nicht mehr von alleine zurück. Eine auf Händen getragene Schreibmaschine hat ihr Gewicht. Doch Elis Schreibmaschine erleichtert die Schritte. Eli hat den neuen Overall angezogen. Er hatte im Paket von Großvater Heinrich gesteckt. Der Overall ist grün, er sitzt auf Figur. Den Einstieg ermöglicht links seitlich ein langer verdeckter Reißverschluss. Man kann sich in der Pelle trotzdem locker bewegen, denn der Stoff geht mit. Elastik ist im Westen das Neueste.
Das Fenster unter dem Fries ist offen. Das bedeutet noch nichts. Es heißt nicht, dass Ludwig Zweig daheim ist. Sein Nachbar Tetzner von der Kamera besitzt ein Motorrad. Sie fahren oft an die Flottstelle nach Caputh zum Baden. Heute wäre so ein Wetter.
Heute wäre so ein Tag. Heute hat die Schreibmaschine genug geärgert. Eli hat keine Lust mehr, den Typenhebel jedes Mal von Hand in die Ausgangsposition zu bringen. Man konnte wütend werden und mutig. Sie hat ihren Kram liegenlassen, die Papiere verstreut auf dem Tisch, die
Ästhetik der Antike
bleibt für eine kurze Unterbrechung aufgeschlagen. Sie hat, um den kühnen Entschluss auszuschmücken, zum grünen Elastik-Overall noch die Korkpantoletten angezogen. Es geht um eine defekte Schreibmaschine. Ludwig wird Retter sein, er, der Einzige, er wird jetzt helfen. Obwohl er sich noch nie in solchen Sachen hervorgetan hat. Auch die beiden anderen haben noch nie einen kippelnden Mensatisch stabilisiert oder den Bildprojektor bedient. Das macht Eli, sie schleppt die Filmbüchsen, sie macht zum Schluss die Fenster zu. Als Arbeiter kennt sich Eli mit Hammer und Zange aus.
Vom Tauber-Haus zum Löwenportal gelangt man in einem Sprung. Das Gelände hat keine Zäune mehr, von den Hecken sind ein paar Büsche übriggeblieben. Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten? Ein Kalenderspruch sagt: Der kürzeste Weg ist immer der Mensch.
Diffuses Vertrauen. Quer durch allerlei Begegnungen im belebten Erdgeschoss, wo auch Meng Hai-Feng wohnt und Parsi, der Perser, neuerdings zusammen mit seiner Mutter. Sie war aus Persien zu Besuch gekommen. Sie hatte sich mit einem Adressenzettel und einer Büchse voll Dollarnoten einfach auf den Weg gemacht vom Persischen Golf zum ostdeutschen Babelsberg, wo der Sohn lebt.
Schick schick,
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