Sepia
jetzt trotzdem immer noch richtig gut aus. Sogar besser, finde ich. Trotzdem, sogar besser. Ein Zuspruch, der kein Ende findet. Ungehöriger, nicht enden wollender Beifall oder Schreck. Oder ein Ende mit Schrecken.
Freitag früh acht Uhr. Vorführung Geschichte des Stummfilms. Eli lümmelt in ihrem angestammten Sessel. Sie hofft, dass noch einer kommt. Hofft inständig. Ludwig. Hofft hoffnungslos. Schubert. Sie hört die Projektorgeräusche. Vorführer Paule hat Schicht. Willst du wirklich gucken, ruft er nach der ersten stummen Filmrolle durch die Sprechanlage. Eli geht zum Pult, sie drückt auf den Knopf, ihre Stimme schallt: Lass laufen. Kann ja sein, es kommt noch einer.
Pauls Stimme klirrt durch die Sprechanlage: Freitags nie. Dazu ein typisches Paule-Räuspern. Also fahr ich jetzt wieder ab.
Bilder geistern über die Leinwand.
Der müde Tod
. Dunkle und lichte Stellen. Wechselnder Mond. Wechselnde Gezeiten. Gedankenstriche.
Das Buch mit den Illustrationen von Max Schwimmer taugt wahrscheinlich nicht als Geschenk für Schubert. Schon auf Seite drei hat der Künstler einen nackten Busen gemalt, und so geht das weiter. Gedichte, dazwischen Illustrationen. Wahrscheinlich braucht Schubert überhaupt keinen Ersatz für seinen Bart. Oder Trost. Auf der hellen Leinwand schaukelt eine schwarze Kinderwiege. Wenn Eli einnickt und wieder aufwacht, ist die Wiege immer noch da. Bewacht von der ewigen Mutter. Weißes Licht. Wiege und Wiege, hölzernes stummes Poltern, dazwischen Schlaf. Die Wiege ist ein Symbol oder eine Metapher. Die schaukelnde Wiege trennt die Handlung und bindet die Zeitebenen zusammen. Geschichten und Geschichte. Die Schrift auf der Mauer. Mene mene tekel. Belsazar in Babylon, Jesus auf dem Kreuzweg, das Hugenottengemetzel in Paris, Armut und Reichtum im Westen. Zum Schluss der Weltkrieg. Feuer. Häuser brennen. Stummfilmkrieg. Eli kriecht trotz der Stille mit beiden Ohren tief in die Jacke und sperrt vorsichtshalber im Schlaf den Mund auf. Schützt die Lunge vor der Detonation. Drei Stunden und siebzehn Minuten,so lange dauert der Stummfilm von David Griffith.
Intolerance
, ein Meilenstein der frühen Filmkunst. Eli denkt an den Sommer. Nicht an den, der vor der Tür steht, sondern an eine Aufgabe, vor der sie flüchten möchte, um eine andere zu erfüllen. Es ist nicht spät, es ist nicht kalt. Es ist schön, himmlische Ruhe im Saal. Der Mensch streckt kindlich die Hände aus. So viele Leinwandgötter. So viel Vollendung. Licht. Finsternis. Ein Titel, ein Anfang. In Ewigkeit. Bis eine Außenwelt die Polstertür neben der Leinwand aufstößt. Grelles Licht, echte Julisonne, Nachmittagssonne, knallt in den dunklen Saal. Die tüchtige Mensachefin steht in der Tür.
Ich konnte mir denken, dass du hier bist. Eli, du hast vergessen, deine Milch abzuholen. Hier hast du die Milch. Prost Mahlzeit. Eli rappelt sich aus dem Sessel.
War Doktor Schubert essen oder Ludwig Zweig?
Palavern beide noch in der Mensa. Die Mensachefin muss sich um vieles viel Sorgen machen. Die leere Milchflasche gehört in den Milchkasten zurückgestellt. Sonst habe ich den Ärger. Kneipenzustände lässt die Mensachefin gar nicht erst aufkommen. Schnaps, Bierflaschen und Fremde im Haus.
Tschüs, Eli, und vergiss die Flasche nicht.
Die Mensachefin wirft einen Blick auf die schrägen Schwarzweißbilder auf der Leinewand, bevor sie zusammen mit der Sonne hinter der Polstertür verschwindet.
Eli sinkt wieder in ihren weichen Sessel. Beide noch in der Mensa. Elis liebster Philosoph und der liebste Faxenmacher. Der Taucher und der Teufel. Der Cordanzug und der ausgeleierte flaschenbraune Pullover. Der Ausbund und der Ausbund. In Eintracht. Ihr und ich. Milch bindet die Schwermetalle. Eli hält die leere Flasche. Die Augenlider flattern. Der Film schwimmt wie eine Wolke am Himmel.
Willst du immer noch gucken?
Keine Meldung aus dem Saal.
Paule hält den Projektor an. Er spult die Rolle im Schnelllauf zurück. Die Patrone klickt ins Gewehr des Soldaten. Der tote Feind steht auf. Er nimmt das Gewehr vom Auge und die Angst aus seinem Gesicht. Das Kind in der Wiege schlüpft in den Bauch der ewigen Mutter.
Das Ende des Filmstreifens flattert, knistert, bis die Maschine steht.
Jetzt herrscht Ruhe. Bald auch totale Finsternis.
Eli schläft. Satt und eingesponnen in Zugehörigkeiten. In der Mensa herrscht Frieden. Die Stühle auf den Tischen recken die Beine zur Decke. Ludwig und Schubert sind übereingekommen.
Die immerwährende
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