Sepia
ein Gedanke. Ludwigs Stimme: Wissen Sie, Herr Luft, es sind keine wirklichen Vögel. Die Vögel, die ich meine, sind eigentlich hohl und ohne Leben. Ihre Vitalität ist in das Gefieder übergegangen und phantastischgeworden, wie im Museum, in der Rumpelkammer oder im Lehrmittelzimmer. Sie sind Teil der Materie, die sich den Schein des Lebendigen gibt. Ehrlich gesagt, die Vögel in meinem Stück sind Simulanten.
Dann sind Sie Platoniker.
Eigentlich nicht, sagt Ludwig. Ich bin vielmehr Fotograf. Ich habe früher gern fotografiert. Die Fotografie ist das Medium für die Wiederkehr der Toten. Aber ich glaube, das Unwiederbringliche lauert als melancholische Erfahrung nicht nur im Bild, sondern auch auf der Bühne, es lauert im halb von einem Hut verdeckten, von einem Lächeln zerrissenen Gesicht eines Schauspielers, dessen Mund gerade etwas sagt, beziehungsweise: gesagt hat. In dem Augenblick ragt aus der Simulation ein Rest, eine Erinnerung an das Leben. Glaube ich. So ein kleiner Rest.
Sie vertrauen dem Bild.
Ja.
Trotzdem noch einmal zurück zu Ihrer Botschaft.
Ludwig fällt dem Fragesteller ins Wort, Ludwig fällt immer ins Wort, wenn er unbedingt etwas loswerden möchte. Es ist eine Angewohnheit, eine schlechte, sagt Schubert, eine athenische, sagt der Dekan. Eli hält den Atem an.
Die Schreibmaschine, sagt Ludwig. Ich möchte sagen, sagt seine Stimme im kleinen hölzernen Kofferradio, dass ich die Schreibmaschine mitgenommen habe. Ich hatte sie bei mir im Gepäck, es gibt ja noch durchgehende Bahngleise, offene Strecken, in der Nacht fahren an der Station Zwinge Güterzüge über die Grenze. Vor der letzten Überführung gibt es eine Gelegenheit, dort rollen die Waggons langsam genug für einen, der sprinten kann. Ich war auf der Mittelstrecke immer sehr gut. 800 Meter, eins zweiundfünfzig. Manfred Matuschewski hat damals mit eins fünfzig die Europameisterschaften gewonnen.
Das ist meine Botschaft. Ich hoffe meine Botschaft geht über den See und findet das Ohr.
Friedrich Luft ist ein Experte, er kürzt niemals eine Antwort mit einer Zwischenfrage, er überspielt seine Irritation, jetzt, nach einem technischen Rauschen und deutlichem Atemgeräusch, fährt er freundlich anteilnehmend dazwischen. Lieber Ludwig Zweig, man hört, dass Sie als Nächstes ein Stück über den Weltkrieg schreiben wollen. Über Stalin?
Ach nein.
Nein?
Nein.
Eli hält das Kofferradio im Arm. Erikas REMA Trabant. Die Augen geschlossen. Lieber Friedrich Luft, liebe Hörerinnen und Hörer, Sie haben also allhier erfahren, dass Rafaela Reich einen Mittelstreckenläufer sehr liebhat. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Wiederholung der Sendung
Theater in unserer Zeit
folgt die Wiederholung der Übertragung eines Gottesdienstes aus der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Eli hört andächtig zu. Sie hört die Nachrichten und eine Sendung aus dem Elefantengehege des Berliner Zoos. Sie lauscht den Philharmonikern unter Karajan. Im Internatsbett, das Kofferradio umschlungen. Musik tönt in den Bauch hinein. Botschaften wollen erkannt werden. Signale empfangen. Ach, ach. Ach, Eli.
Eli holt die bezahlte Milch aus der Mensa. Zum Essen ist es zu spät. Gestiefelte Schauspielstudenten ziehen Richtung Parkgelände zum Pferdestall. Reiten, Fechten, Szenenstudium, sie sind immer unterwegs, von Station zu Station bis zum Vorspiel vor geladenen Gästen, vor Intendanten, nächste Station Engagement im Senftenberger Theater. Senftenberg wäre gut, von dort glückt der Absprung nach Dresden und Schwerin und dann nach Berlin am besten. Im Haupthaus und an der Bushaltestelle von Schubert kein Zeichen.
Eli sitzt mit der Milch in der umgeräumten Bude, dem einstigen Schlafzimmer von Richard Tauber, sie hockt auf dem Fensterbrett. Die Stierblutflasche klemmt immer noch in der Astgabel oben in der Pappel. Sie scheint am Ast festgewachsen zu sein. Eli beobachtet Vögel. Von oben herab. Auf der Wiese spaziert ein schwarzweißes Elsternpaar. Etwas entfernt, rot leuchtend, ein Dompfaff, nacheilend das Weibchen. Wie ein Spiel. Wie aufgezogen. Weil meine Augen es so wollen. Meine Augen sind theaterhaft. Sehr komisch. Zum Verrücktwerden schön. Man könnte ewig sitzen und den Vögeln zuschauen. Mitten auf der Wiese steht ein Kranich. Sein besorgter Blick. Er ist etwas ins Abseits geraten. Von drüben aus dem Westen über den Stacheldraht in den Osten. Auf die Wiese der Tauber-Villa. Er tritt, er schwingt, er streckt den Hals, er
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