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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Kirchturmuhr schlägt vom städtischen Ufer der Elbe. Glockengeläut.
    Der einzige Gedanke, das ist ein Name. Er bleibt in der Mitte und ringsherum. Weil es keinen anderen Gedanken gibt.
    Von Wittenberg führt eine grade Straße über Treuenbrietzen, Trebbin, Michendorf. Viele Schritte in den Abend hinein. Dann kommt die Nacht. Die nächste Nacht. Man zählt die Lebensnächte. So geht der Gedanke nicht verloren.
    Und der geliebte schalkhafte Schatten des Namens bleibt immer da. Seine sommerbraune Haut, seine lackschwarze Mähne. Brauen und Zähne. Verstellte Stimmen. Melodien.
     
    Der Dekan lässt Gnade walten. Fräulein Rafaela, Ihre Sinne sind merklich nicht auf das Studium gerichtet. Ich gebe Ihnen noch eine Chance.
    Eli macht später als die anderen den Seminarschein in Französischer Konversation. Sie bereitet sich vor. Les ouvriers français font souvent grève. In Russisch arbeitet sie an einem Vortrag über den Film
Die Ballade vom Soldaten
. Sie denkt daran,dass sie Regisseur und Darsteller in den Vokativ, also in den fünften Fall, setzen muss. Reshissjorom i glawnym aktjorom. In Kunstgeschichte schreibt sie eine Seminararbeit über die Laokoon-Gruppe, das genaue Thema heißt: Warum und wie stirbt Laokoon. Die Kameratechniker haben die Schwarzweißaufnahme der marmornen Figurengruppe aus dem ersten Band der Kunstgeschichte von Richard Hamann für Eli vergrößert. Der ganze Jammer eines Vaters mit seinen zwei Söhnen klemmt in DIN A4 an der Schranktür. Eli versucht, das Foto zu enträtseln. Was haben die drei Künstler aus Rhodos vor mehr als 2000 Jahren erzählen wollen. Sie entscheidet sich über Nacht. Gift. Laokoon wurde von einer Schlange in die linke Hüfte gebissen. Sie argumentiert, beschreibt die Hüfte des Mannes als mimosenhaft empfindliche, von Adern durchzogene schützenswerte Region. Zarte Berührung stiftet Reflexe, manchmal ein Lachen. Eli muss sich beeilen, es ist schwer, auf sieben Seiten ein Ende zu finden. Das Ende ist immer am schwersten.
    Eines Tages hört sie seine Stimme im Radio. Reiner Zufall, reines Glück. Dass Schubert eine Bemerkung gemacht, die Sendung damit angekündigt hatte, will Eli nicht gelten lassen. Jetzt nicht. Jetzt tönt das Motiv der Sendung. Unerklärlich so ein Radio, wenn man sich bemüht, kann man vielleicht begreifen, wie Musik von sonst woher durch die Luft fliegen und Wände durchdringen kann. Melodien als Ätherwellen, aber trotz Physik: am Ende und vor allem jetzt bleibt Zauberei. Glück. Eli hört Stimmen. Es ist 18 Uhr. Neues aus dem Theater. Die Wiederholung der Sendung vom Vormittag. Eli liegt im Internatsbett. Sie steckt unter der Decke. Es ist kalt, und die Müdigkeit macht den Nachmittag noch kälter. Erst spricht Friedrich Luft. Er begrüßt den jungen Theaterschriftsteller. Sein Stück sei in den vergangenen Wochen mit Beifall in zwölf Spielstätten aufgeführt worden. Mit welcher Inszenierung könne er sich am meisten anfreunden?
    Mit keiner. Es ist Ludwigs leise freundliche Stimme. Seine Meinung, nur zwei Worte, doch damit beleidigt er die ganze Welt. Damit wirbt er, damit gewinnt er Eli für dieses und das nächste Leben. Ludwig, wie sie ihn kennt. Seine arglos unbedingte Aufrichtigkeit. Sein trommelndes Herz.
    Eli lächelt beglückt. Er redet mit ihr.
    Friedrich Luft will wissen, wo er sein neues Stück gern auf der Bühne sehen würde.
    Im Berliner Ensemble. Am Schiffbauerdamm. Mit Flörchinger, mit Wolf Kaiser, mit der Gisela May, der Hanne, dem Schall, dem Hilmar.
    Friedrich Luft hat noch andere Fragen parat. Als kluger und erfahrener Kommentator ist er nicht irritiert, aber doch erstaunt über diesen schrägen Vogel. Ein Unikum. Das Berliner Ensemble wird Ihnen wohl für immer verschlossen bleiben.
    Ach nein, sagt Ludwig.
    Nein? Friedrich Luft erklärt, man habe vor dem Gespräch ausgemacht, über die Flucht und ihre Umstände Stillschweigen zu bewahren. Liebe Hörerinnen und Hörer, ich bitte um Verständnis, wenn wir über den Wechsel von Ost nach West hier nicht reden wollen, sagt er und fragt: Sind Sie vom großen Interesse, das Ihr Theaterstück findet, überrascht?
    Missverständnisse, sagt Ludwig.
    Der Kommentator hat Geduld, er wartet immer noch, auch wenn die Pause schon sehr lang ist.
    Das müssen Sie mir erklären.
    Ach nein, sagt Ludwig. Eli hört Papierrascheln und das tiefe Schweigen, es ist Ludwigs Schweigen, sein unruhiger Atem, gleich kracht der nach hinten gekippte Stuhl, endlich folgt eine Erklärung oder wenigstens

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