Sepia
streckt die Beine, er breitet die Flügel aus. Er findet den Weg. Schon fliegt er über die Dächer der Karl-Marx-Straße, gleich wird er perfekt auf dem Wasser des Grenzsees landen. Schubert kommt heute nicht. Freitags und dienstags nie.
Der Fachtag mit dem Dekan fällt aus.
Ist er krank geworden?
Im Gegenteil. Freiberg. Er wollte nach Freiberg fahren, so die Auskunft im Sekretariat.
Eli hat einen Entschluss gefasst.
Die Vögel in den Bäumen und der Kranich auf der Wiese haben ihr wahrscheinlich beim Nachdenken geholfen. Es ist, weil sie keine Worte hat, ihr fehlen die Worte, sie hat keine Töne. Nicht auf Bestellung. Ich mach ein Lied aus Stille, so was fällt ihr nicht ein.
Eli bittet um einen Konsultationstermin, deswegen ist sie ins Sekretariat gekommen. Frau Gieram blättert im Kalender. Wie wäre es nächste Woche, da ist er wieder im Amt, und vielleicht hat er gute Laune. Eli, du bist gleich die Erste.
Der Dekan trägt Dunkelblau mit Silberkrawatte. Er duftet nach Feuerzeugbenzin und Spanischer Seife.
Frisch heraus, sagt er. Das deutet auf eine erfolgreiche Woche, gute Tage in Freiberg, aber man kann sich auch irren. Er stützt die Ellenbogen auf den Schreibtisch. Es ist der stilvolle Schreibtisch im Herrenzimmer des Teppichhändlers, wahrscheinlich hat Stalin in diesem Armstuhl gesessen. Der Dekan baut mit seinen langen gepflegten Fingern vor der Stirn ein stabiles Gebäude auf, ein eisernes Gitter.
Eli hat drei Sätze parat. Darauf hört man ein tiefes Atmen, fast ein Schnaufen. Das eiserne Gitter fällt. So ballt sich Unmut. Eine Faust, die nicht auf den Tisch fällt, leider nicht. Das wäre dann eine Konfrontation. Eli könnte kämpfen, stur sein oder heulen. Unmut, ohne großes Theater, ohne Umschweife, fast väterlich, so lehnt er Elis Antrag, das Ansinnen, ab. Er habe allerhand erwartet, Schwangerschaft, Schulden, Mitarbeit in einer Kirchengemeinde, niemals diese Art unwürdiger Feigheit. Sie sei durchaus in der Lage, die kreative, die schöpferische, um nicht zu sagen potentiell künstlerische Aufgabe zu erfüllen. Wie Müller und der Student aus Österreich. Wenn sie nur wolle. Sie habe es bewiesen, sei mit einer Urkunde für einen gelungenen Kommentar ausgezeichnet worden, habe von ihm für eine anrührende Vater-Sohn-Geschichte ehrliches Lob geerntet.
Eli hatte die mit dicken Nadeln und Schnellstrickwolle selbstgestrickte Jacke zum feinen Allerweltsoverall angezogen. Die Hose hat, wie sie jetzt merkt, Beulen an den Knien. Sie faltet die Hände. Sie fühlt sich übernächtigt und ziemlich verlottert. Fast wäre sie zu spät gekommen, weil sie vor dem Konsultationstermin, um Mut zu schöpfen und nebenher zu erkunden, ob die Pilzzeit gekommen ist, im Wald war, bei dem schönen Regen in den vergangenen Tagen, bei Vollmond und höheren Temperaturen konnte es unterdes so weit sein. Elifühlt sich schuldig. Ungekämmt. Atemlos. Sie hatte dem Dekan die Laune verdorben. Auf die es doch ankommt, auf die alle, besonders Frau Gieram, so großen Wert legen. Die Laune muss man erhalten. Der Dekan versteht keinen Spaß, so heißt es, und er verdient keinen Ärger. Es sieht aus, als würde Eli sich ducken, aber sie duckt sich nicht.
Der Dekan wiederholt freundlich, aber bestimmt: Ich sehe keinen wie immer gearteten Grund, ihrem Antrag stattzugeben.
Eli wiederholt: Es mangelt mir an Talenten.
Der Dekan muss nun doch etwas deutlicher werden. Ich habe Ihnen den Bitterfelder Weg geebnet. Sie haben das Leuna-Kombinat kennengelernt und eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Haben Sie dort nichts erfahren?
Zu viel, sagt Eli, doch mir fehlen dafür die Worte, die richtigen. Der Bitterfelder Weg, das ist ein Lebensweg, und er braucht Wahrhaftigkeit. Ich bin die Frau, die sich selbst das Licht ausschaltet. Ich bin mir nicht geheuer. An den Erfahrungen, also den Fakten, liegt es bestimmt nicht.
Während Eli dem Dekan die Kunst des Lebens und die wirklichen Chancen des proklamierten Bitterfelder Weges zu erklären versucht, findet sie Kiefernnadeln vorn in der Strickjacke, am Ärmel klebt Harz. Lauter Anhängsel aus dem Wald. Wenn Eli jetzt weiterargumentiert, wird es kompliziert. Sie hätte bei ihren drei Sätzen bleiben müssen oder bei dem einen. Der Dekan hat immer recht, wenn er redet, und er muss viel reden. Als dürfe er weder Atem holen noch stillstehen oder gar zurückschauen oder in sich gehen. Er braucht das Gitter vor seiner Stirn.
Bekennen Sie meinetwegen die Leiden der jungen
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