Sepia
Schlesien. Es bedeutet nichts. Weil ich nicht weiß, dass es das letzte Mal ist. Die Wirtin trägt das Bier herbei. Meine Dresdner Großmutter schlürft den Schaum. Die niedlichen Händchen einer Liliputanerin winken mir zu. Ihr Kopf ist groß. Graue Haare, Locken und ein Gesicht wie Knüllpapier. Ich schiele hin zu der Ofenbank, wo sie sitzt und mit den Beinen baumelt. Unsere Koffer sind sehr groß und sehr leicht. Sie sind leer, weil wir aus der Stadt kommen. Auf der Rückreise nehmen wir Kartoffeln, Äpfel, Eier und zwei geschlachtete Hennen mit. Die beiden Großmütter sind immer sehr freundlich und leise. Sie können sich nicht ausstehen. Emma aus der Stadt und Berta vom Dorf. Der schlesische Großvater kümmert sich nicht um die Weiber. Er arbeitet in der Zementfabrik, nach der Tagschicht hat er im Stall zu tun. Die schlesische Großmutter ist mir sehr lieb.So wahr mir Gott helfe. Wenn ich frühzeitig aufwache, ist sie beim Melken. Erst die Kuh, dann die Ziege. 1896 geboren, hat sie beim Kantor Singen und Beten gelernt, aber nie Lesen und Schreiben. Sie kennt keine Zahlen. Ihr Kopf ist voll mit anderen Sachen, Geschichten und Versen, was einmal war und was sein wird. Sie weiß, wer im Spitzberg wohnt und was alles im Wurzelwerk des Birnbaums los ist. Käferhochzeit. Beim letzten Abschied ist sie schon 49 Jahre. Auf der Flucht ist sie an einem Nimmerleinstag 50 geworden. Mit 55 fällt sie vom Fahrrad. Schlaganfall. Sie war unterwegs zu den Bauleuten im neuen Schlesierweg. Mit dem Essentopf auf dem Gepäckträger. Einen Sudetenweg und einen Ostpreußenweg gibt es inzwischen in dem fremden Harzdorf auch. Und auf dem Kirchhof ein Vertriebenenrevier. Der Großvater hat den Sargdeckel festgenagelt. Aus Sparsamkeit und Liebe hat er das selber gemacht. Und er ist auch selber als Träger mitgegangen.
Caro Federico Fellini, meine Liliputanerin bindet die Zeit und die Träume. Während die Jahre vergehen, ist sie die Alte geblieben. Ohne Anfang und Ende. Sie kommt, wenn sie nicht kommen muss. Sie eignet sich nicht als Metapher. Im Gegenteil. Sie führt mich vom Weg ab ins weite Feld.
Ludwig.
Seit einer Woche kein Zeichen von ihm. Auf der Stechkarte keine Stempel, kein Loch, also ist er nicht eingefahren. Im Schacht war er nicht. Über Tage hat ihn niemand gesehen.
Die Wirtin in der Thomas-Müntzer-Straße kann keine Auskunft geben, selbst wenn sie dürfte. Sie weiß nicht, wo Ludwig geblieben ist. Die Tür vom Turmzimmer wurde plombiert. Ein Draht, klebriges Zeug mit Siegel von der Polizei. Niemand darf rein.
Die Wirtin klagt, sie darf nicht einmal ihren eigenen Affenbrotbaum in Ludwigs Zimmer gießen. Das hat man davon,wenn man es seinen Mietern schön macht mit Rauchtisch und Blumen.
Eli erkundigt sich nach dieser Pflanze, dem vermeintlichen Affenbrotbaum. Sie hat es gleich geahnt. Die Wirtin redet von einer Crassula, einem Dickblattgewächs, das als Wüstenpflanze lieber mal ein paar Wochen trocken steht. Sie tröstet, ohne den Irrtum aufzuklären. Affenbrotbäume sind echte Bäume in Afrika, 15 Meter hoch, Baobab oder Adansonia. Die gibt es hier nicht, weder draußen noch als Zimmerpflanze. Sie sagt: Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren Blumentopf, der braucht jetzt kein Wasser, glauben Sie mir, der verdurstet nicht.
Der Ehemann der Wirtin arbeitet als Kraftfahrer. Er fährt das Chefauto. Damit kommt er viel rum im Kombinat, auch im Betriebsteil Schlackensteine, wo ganze Mannschaften, manchmal mehrere verschlossene Transporter vom Knast aus Sangerhausen hingekarrt werden zum Arbeitseinsatz.
Der Mann der Wirtin hat sich erkundigt, er hat sich umgesehen und kompetente Kollegen gefragt, er kann nun sagen, in so einem Trupp ist Ludwig Zweig nicht. Da kann er nicht sein. Warum sollte er denn?
Ist das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht? Kommt drauf an. Im Krieg hieß die Nachricht, wenn einer in Gefangenschaft gekommen war, dass derjenige wahrscheinlich noch am Leben ist. Heute und hier so nahe an der Grenze, bedeutet, wenn du nicht im Gefangenentrupp bei den Schlackensteinen gesichtet wirst, dass du es geschafft hast, du hast ein Schlupfloch gefunden, du bist höchstwahrscheinlich drüben im Westen gut angekommen. Das ist der Unterschied zwischen dem Krieg unter Hitler und dem jetzigen Kalten Krieg.
So jedenfalls argumentiert der Aufseher, meint der Mann der Wirtin. Er meint es gut. Die Wirtin nennt ihren Mann Spatzl.Er trinkt seinen schwarzen Kaffee am liebsten schwarz, dann fährt er Eli mit
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