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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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herumphantasieren oder ihr Haar durchkämmen. So hört er zu. Weil die Sache spannend ist. Sehr spannend. Suspense, nennt Hitchcock, der amerikanische Kriminalfilmregisseur, diesen Knalleffekt. In Wirklichkeit tickt Schuberts Armbanduhr. Eli redet viel. Es ist ihre Stimme, die ihn hält, die Bett- und Herzwärme und Suspense, er möchte gern wissen, wie die Geschichten, die Buntstiftgeschichten, weitergehen, die Storys, die Eli erzählt, und seinLeben, wo er morgen sein wird. Unterdes ist die Zeit sowieso überschritten, jetzt kommt er nicht mehr ungesehen aus dem Haus. Aus der Dachkammer, die knarrende Treppe hinunter. Am Treppenfuß der klirrende Katzenteller. Das quietschende Portal. Einmal musste es so kommen. Der neue Säugling unten im Erdgeschoss schreit. Der Hausmeister schaufelt Koks durch das Kellerfenster, dann das Kratzen im Heizkessel, ein Geräusch, das man bis unter das Dach deutlich hört. In den Rohren klopft Wasser. Die Temperatur steigt. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Damit meint der Dichter: Mensch, du bist erlöst. Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne. In Wirklichkeit ist es anders. Der Hausmeister bleibt jetzt eine ganze Weile im Haus. Erwin Schubert weiß, dass er längst hätte verschwinden müssen. Er hat die Zeit vergehen lassen. Er lässt das Schicksal walten. Eli liest ein Kapitel aus dem Laokoon vor. Es ist eine von Eli ertrotzte Frist, ein Aufschub, der ihn beruhigt und gleichgültig vor der Welt macht und besorgt und fast stolz. Eli liest von den Bauarbeiten auf dem Grundstück von Felice de’Freddi in der Nähe von San Pietro in Vincoli. Rom, Januar 1506.
    Falls die Zitrone, über die Station Sizilien kommend, seinerzeit in Rom schon heimisch war, darfst du dir den Duft eines Zitronenhaines denken.
     
    Das Jahr wird ein Limonenjahr, sagen die Gärtner von Rom. Man riecht es, wenn sich am Morgen die Knospen öffnen. Ein milder Januar.
    Felice de’Freddi, der Besitzer der Ländereien, der Eigner des Weinbergs im Domus auria, nur einen Katzensprung vom Colosseum entfernt, hat einen Trupp Männer bestellt. Es sind Brunnenheber, spezialisiert auf Erdarbeiten. Sie arbeiten schon Tage hier und wissen immer noch nicht, was das einmal werden soll, die Gruben, die sie in den Berg graben. Latrine,Therme, Weinkeller. Mindestens drei Meter stecken sie mit dem vierten Loch in der Erde. Die Bauvorschriften in Rom sind streng. Für Latrinen gilt ein modernes Kammersystem. Die Männer schaufeln, werfen aus der tiefen Grube herauf, was Wetter, Kriege und Moden übriggelassen haben. Restliches Menschenwerk und verwandelte Natur. Felsenschwere Brocken – Urgestein, gebrannte Ziegel. Wenn die Grube weit genug ist, helfen Hebelstangen. Beim Klopfen und Stoßen tönt es unter den Stangen hohl. Eine Ramme soll abgeseilt werden. Aber dann läutet die Glocke, Pause zum Essen und Trinken, Zeit, um die Situation in der Grube zu überdenken.
    Zu dieser Stunde hätte die Sache schiefgehen können, doch die Baukundigen erkennen den Hohlraum als ein vormaliges Gewölbe. Sie gebieten Vorsicht. Fort mit dem groben Gerät.
    Man versucht, Ziegel aus dem Gewölbe zu lösen, arbeitet weiter mit zierlichen Hämmern und spitzen Krallen. Plötzlich, das sollte eigentlich nicht passieren, stürzen Steine durch das Gemäuer. Glücklicherweise können die größeren Ziegelbrocken am Rande abgestützt werden.
    Nun überschlagen sich die Ereignisse.
    Es ist der 15. Januar.
    Der Kleinste aus der Arbeitstruppe, ein schmales Kind von neun Jahren, wird in ein Seil eingebunden, sodann samt einer brennenden Fackel, die er mit beiden Händen über Kopf festhalten muss, in die Höhle hinuntergelassen. Attenzione, avanti, avanti, etwa sechs Meter ohne Hindernis. Der Junge setzt alle Fackeln, die man ihm im Gürtel mitgegeben hatte. Die Experten hängen über dem Loch. Che cosa videte? Marmor, ruft der Junge, ich erkenne einen nackten Mann, dazu zwei sehr schöne Kinder, und ganz viel Schmerz. Sehr sehr viel Schmerz.
    Was noch?
    Sechs Füße.
    Was noch?
    Die Männer horchen.
    Der Junge schweigt.
    Holt mich raus, ruft er.
    Die Männer warten, bis die Fackeln verlöschen, dann greifen sie in das Seil. Was hast du da unten gesehen?
    Habt keine Angst, sagt der Junge. Als würde ein alter Mann zu Kindern reden und nicht umgekehrt. Ruhe dich aus, sagen die Männer. Sie lassen den Jungen gehen.
    Die Baukundigen sichern einen größeren Einstieg. Von der Seite wird umsichtig ein zweiter Zugang gegraben.
    Die

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