Sepia
schwarzweißer und stummer Kameraübung, zusammengebastelt aus 16-mm-Restfilm von ORWO.
Eli spielt mit, sie kümmert sich außerdem um die Kostüme. Damit muss sich Jürgen nicht belasten, denn Jürgen braucht jetzt jede Minute für die Konzeption und den Drehplan unddas optische Drehbuch, das muss schnell auf den letzten Punkt gebracht werden. Was im Kopf ist, muss endlich aufs Papier. Mit dem Papier holt er sich in den Etagen des Haupthauses wichtige Unterschriften, Drehgenehmigungen. Jürgen braucht jede Minute, vor allem die letzte, denn in letzter Minute fällt ihm noch etwas ein, etwas Überzeugendes, ein letzter Satz für die Konzeption auf dem Papier. Dann ist die Minute vergangen, und der Film ist immer noch Jürgens Geheimnis, ein Geheimnis, über das er gerne und lange spricht, und damit wird sein Vorhaben immer mehr zu kochender Seife, ein wunderbarer Schaum, lauter schillernde Seifenblasen. Der Kamerafreund hat es in der letzten Debatte gesagt. Kochende Seife.
Der Fundus stellt ein Dutzend weiße Herrennachthemden vom Mamlock-Film zur Verfügung. Eli kauft dazu rosa Gummischürzen. Jürgen lässt sich überzeugen, rosa, weil es keine weißen Gummischürzen gibt. Nur gummirosa. Jürgen muss noch entscheiden, ob die Wäscherinnen barfuß gehen sollen. Jürgen schweigt, er schwankt. Barfuß wäre schön, aber wahrscheinlich würde das dem Künstlerischen Berater nicht gefallen, vielleicht würden damit Fragen provoziert, auf die Jürgen eine Erklärung haben müsste. Barfuß, ja oder nein?
Das Ende kommt vor dem Anfang, es kommt, bevor alles schiefgeht, was vielleicht einmal nicht schiefgegangen wäre.
Gibt es so etwas überhaupt?
Die Waschhaus-Dekoration im Atelier sieht perfekt aus. Die Beleuchter setzen versuchsweise eine Silberwand und Licht. Die Kamera verharrt in erster Position, das Bild wird eingerichtet für eine amerikanische Halbtotale. Kreidekreuze auf den imitierten Fliesen bezeichnen den Stand der Wäscherinnen, Kreidepfeile zeigen die Bewegungsrichtung und die Endposition. Es ist eine Probe.
Jürgen bedient selbst den Schalter an der Nebelmaschine. Die Bedienungsanleitung sagt, es dauert dreizehn Minuten,erst dann erreicht das Gerät 300 Grad Celsius, erst dann geht es los, das Fluid verbindet sich mit der atmosphärischen Feuchtigkeit, die Nebel wallen. Die Wäscherinnen, barfuß, auf ihren Plätzen. Jürgen wartet hinter der Kamera. Ruhe bitte. Gefasstes Schweigen allüberall. Ernste Stille. Kamera. Kamera ab. Kamera läuft.
Im Kameraausschnitt zeigt sich ein zartes weißes Knäuel. Nebel, wie er neugierig schleichend hinter der Tür hervortritt, wie er am Boden entlangkriecht, wie er breit zerfließt und steigt und wie er sich zu einer flauschigen Wolke entwickelt, wie er wandernd das Fliesenimitat und die nackten Füße umspielt. Eine überirdische Suppe. Wie die zwölf Helferinnen in diesem weißen Dunst den Boden verlieren, Zöpfe, Locken, Pferdeschwanz, Pony und Brechtfrisuren, rote Lippen, schnapsrosa Wangen, rosa Lätzchen, wie sie ohne Halt, ohne Position in einem watteweichen, schier grenzenlosen Gefilde geistern. Himmel. Und Engel, lauter Engel.
Jemand schaltet die Maschine und das Licht aus. Das hat ausgesehen, als wollte uns der Himmel zur Seite stehen. Als würde sich einer in unsere Story einmischen. Unheimlich. Eine Komödie. Eine Göttliche. Dantes 31. Paradiesgesang:
Und die Mitte sah ich wonniglich
Vieltausend Engel ihre Flügel schwingen,
Und kein Schwund und Glanz dem anderen glich.
Der Beleuchter meint: Eigentlich waren die Weiber gar nicht schlecht, eine schöne Szene wie beim Weihnachtsmann in der Küche. Pfefferkuchenbacken.
Jürgen will jetzt nicht debattieren. Die Nebelmaschine ist viel zu schwach. Das Ding ist Scheiße. Er gibt sofort ein Zeichen. Schlussklappe, abbrechen. So wird die Dekoration im Schulatelier frei für die Nächsten. Ein Drehstab mit ganz anderen Ideen wartet schon.
Trotz des problematischen, vielleicht sogar gescheiterten Drehversuchs lässt Jürgen sein Wäscherinnenprojekt noch lange nicht fallen. Er denkt darüber nach, er hat schon seit einiger Zeit schlaflose Nächte gehabt, nun schließt sich der Kreis, er kehrt zu seiner Anfangsidee zurück, er denkt wieder an einen Trickfilm mit Puppen. Da bist du nicht mehr gebunden. Denn der Mensch in seiner Natur ist für den Künstler als Material eine seidene Fessel, das lernt man schon in der ersten Stunde beim Fotografieren.
Jürgen bedankt sich bei jedem Engel einzeln für den
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