Sepia
Versuch, er bedankt sich bei Eli, sie hatte die Hemden beim Kostümfundus abgeliefert und die rosa Gummischürzen in den Sanitätsladen zurückgebracht, alle in alten Falten wie neu. Danke, Eli, nächstens erzähle ich dir mal, was mir im Kopf herumgeht.
An einem Montag im Juni hat Eli in der großen Vorführung den neuen Bergman-Film
Das Schweigen
gesehen. Wie arm und unglücklich der Mensch ist in seiner schönen Hülle, wie begierig nach Liebe. Das sieht man. Der Mensch ist nicht gut, er lügt, vergisst seine Pflichten und Versprechen um einer Seligkeit willen.
Vor dem Haupteingang haben Studenten eine Barriere gebildet, sie beschwören den Chauffeur vom Außenhandel, der ausgestiegen ist aus dem parkenden Dienstwagen, um den Kofferraum für den Abtransport der Filmbüchsen zu öffnen. Der Zündschlüssel steckt, der Motor läuft. Unser Vorführer karrt auf der Sackkarre die Büchsen herbei, ohne Übergabeschein, einfach so. Er beeilt sich. Montags ist immer Eile geboten. Wir wissen genau, dass die Montagsaktionen nicht statthaft sind. Die Aufführung verstößt gegen das Urheberrecht und gegen Handelsgesetze, gegen den Warenverkehr und nicht zuletzt auch gegen den Lehrplan.
Rebellion wieder einmal gegen die Falschen. Gegen den sturen Fahrer, der nur, streng unterwiesen, den Auftrag eines Auftraggebers erfüllt. Eines heldenhaften Unbekannten. Das Ganze noch mal, noch einmal zwei Stunden Kino, das hieße, den Himmel aufreißen und danach: Schluss der Vorstellung. Aus. Ende. Vertreibung aus dem Paradies. Und der Unbekannte würde deswegen vom Stuhle krachen.
Damit die Sache im Dunkeln bleibt, müssen die Filmbüchsen so schnell wie möglich zurücktransportiert werden, mit der freundlichen, aber bestimmten Maßgabe, dass der sozialistische Filmmarkt so einen Film nicht gebrauchen könne, nicht kaufen, nicht aufführen, nicht lieben wolle.
Das Schweigen
, die sogenannte Ansichtskopie, muss sofort wieder rüber in den Westen. Andernfalls gibt es Aufsehen, und es kostet Geld, und die ideologischen Debatten würden beginnen. Ein Trupp unvernünftiger Studenten hält den Vorführer mit den Filmbüchsen fest. Einige haben das Auto bedrohlich bittend umstellt. Weil die Aufregung unter uns groß ist, das Herzklopfen anhält. So einen Film muss man zweimal sehen. Die Bilder sind beim ersten Ansehen an unseren Augen vorbeigezogen wie im Kino, wie auf einer Leinwand, weil wir nichts Arges denken wollten. Wir wollten nur erfahren, wohin die Reise geht. Die Stadt. Das Hotelzimmer. Die kranke Schwester, die Mutter mit ihrem Sohn. Die Hitze. Das Badezimmer. Die Badewanne. Im kühlen Wasser die Mutter, das Söhnchen in den kurzen Kinderhosen heißt Johan, wie alt mag er sein, vielleicht neun Jahre, er taucht einen Schwamm ins Wasser. Er wäscht seiner schönen Mutter den Rücken, er kühlt ihre Schultern. Der kleine Junge in seinen kurzen Hosen ist überall, scheint überall zu sein, mit still forschenden Augen, wo die Mutter sich sehnt und verzehrt, wo die Tante leidet, wo die beiden Schwestern ihre Liebessehnsucht und Lebenslust als Abgründe erkennen, wo sie sich hassen.
Wir müssen diesen Film, bitte, noch einmal sehen. Um das Auto vom Außenhandel bildet sich ein geschlossener Ring.
Unmöglich, der Film muss noch heute über die Grenze. Der Chauffeur bleibt vernünftig.
Er schlägt die Tür zu, er startet ohne Erbarmen.
Wie der kleine Johan im Film stehen wir nun da. Sprachlos. Wie kann das sein. Wir wissen nur, dass wir nichts begreifen von dieser Kunst, die von Angst, Verwirrung und Hilflosigkeit in einem funktionstüchtigen Niemandsland erzählt.
Das Auto fährt in Richtung Teltow, Mahlow, um pünktlich in Berlin anzukommen. Die Filmbüchsen im Kofferraum.
Das Schweigen.
Eli wagt nicht, über den Film zu reden. Es gibt überhaupt keine Gespräche. Man geht seiner Wege. Das Schweigen ist nicht nur ein Titel, es herrscht, kommt über alle, die dabei gewesen sind. Man weiß, der Rest ist größer als das, was die Leinwand in zwei Stunden Vorführzeit hergeben kann.
Jemand war dann auf die Idee gekommen, an Ingmar Bergman zu schreiben, ihn um Erlaubnis zur nichtkommerziellen Aufführung seines Films im Rahmen eines studentischen Seminars zu bitten. Mehr sinnloses Zeug wurde nicht erwogen. Es war schade. Man hätte den Film gerne noch einmal gesehen.
Eli geht voraus, sie hat Schubert nicht entdeckt unter den Zuschauern im brechend vollen Saal. Sie weiß nicht, ob er dabei war, wenn nicht, wird sie ihm bei
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