Sepia
geholt. Man kann darin von verschiedenen Autoren viel über die Arbeit des Privatgelehrten Pollak erfahren, über seine Expertisen zu griechischen und römischen Vasen, außerdem findet man Tagebuchnotizen, sogar Einzelheiten zum Fundort des Laokoon-Arms, er hat tatsächlich als Krempel bei einem Steinmetz herumgelegen. Pollak hatte Familie, zwei Töchter. 1943, genau am 16. Oktober, dem berüchtigten Sabato nero, wurde er, weil er Jude war, samt der Familie von der SS aus seiner Wohnung geholt. Jemand aus dem Vatikan habe den jüdischen Gelehrten am Vortag gewarnt, wohl auch eine Fluchtmöglichkeit angedeutet. In einem Gesprächsprotokoll berichtet ein Augenzeuge, er habe die Familie auf dem Sammelplatz, der Piazza del Popolo, gesehen, ein anderer sagt, der Transport sei von dort ziemlich direkt nach Auschwitz geleitet worden. Liebe Eli, ich hoffe, dass ich Dir mit diesen Details etwas helfen konnte. Der Lesetag warerkämpft bzw. erschwindelt. Die Familie denkt, ich habe den Mittwochsegen der Mütter empfangen.
Eli hat sich wieder bei der Stadtreinigung zum Wintereinsatz gemeldet. Hoffentlich kommt bald recht viel Schnee. Das bringt Geld und Fluchtmöglichkeiten.
Der Laokoon hängt wie ein Klotz an ihr. Das Schicksal des Mannes, der den richtigen Arm gefunden hat, wirft aus der Bahn. Fakten taugen nicht, um durch die Geschichte zu leuchten, der Weg ist dunkel.
Eli hat für ihren Abendbesuch Kaffee gekocht. Schubert ist gekommen, um die Konzeption zu bereden und das Ganze in eine anständige Form zu bringen. Geduld hat Grenzen. Schuberts Geduld ist grenzenlos. Auf das Dach trommeln sacht, aber beständig die aus den Pappelkronen fallenden Regentropfen.
Was heißt das, Fakten taugen nicht?
Eli rührt im Kaffeegrund, einen Schluck gibt der Becher noch her. Ich muss mir wahrscheinlich ein anderes Thema suchen.
Das Kapitel Pollak ist keins über Marmor, hier muss von einem Labyrinth erzählt werden, das noch niemand bis zu einem toten Gott erkundet hat, also keine Gegenwartskunde.
Schubert runzelt die Stirn, er streicht sich das Bärtchen.
Soll das heißen, jetzt können nur noch Romane und Gedichte geschrieben werden? Und zwar von Dichtern, die noch nicht geboren wurden. Auch unser Ludwig ist nicht Manns genug.
Ich gleich gar nicht. Ich bin befreit, das habt ihr mir damals versprochen, ich bin vom Drama befreit.
Eli rührt und schluckt auch noch den schlammigen Kaffeegrund.
Jetzt schmeckst du bestimmt ziemlich bitter. Schuberts grenzenloseGeduld: Er küsst versuchsweise den Kaffeeschlamm von Elis Zähnen, von der Zunge.
Gallebitter.
Die Regentropfen trommeln zart und genau.
Höre dir das an, es regnet immer noch, murmelt Eli, wenn das alles Schnee wäre, dann wäre ich reich. Für eine Stunde schippen gibt es drei Mark.
Schubert muss gehen, er will nicht erst einschlafen, er hält Eli im Arm, ob Regen oder Schnee, er hat noch einen weiten Weg, Bahnsteige ohne Bahnhof, überheizte Busse und Waggons, bierlaute Skatspieler. Elis Stimme säuselt. Hörst du mir zu? Lippen berühren sein Ohr. Als Kind, murmelt Eli, habe ich alles hellgrün gemalt.
Grüne Hühner.
Schubert schließt die Augen. Er kennt das Lied, ein Schlaflied, ein unerbittliches Bleibelied.
Eine grüne Sonne, murmelt Eli, weil ich nur einen Buntstift hatte, einen hellgrünen Pastellstift, der wurde immer kleiner zwischen den Fingerkuppen, deswegen habe ich nur ganz kleine hellgrüne Sachen gemalt. Der Stift wurde trotzdem kleiner.
Dann habe ich nur noch an den Sonntagen mit der erbsenkleinen hellgrünen Kugel gemalt. Und dann: nimmermehr.
Eli lauscht auf Schuberts Atemzüge.
Das habe ich dir wohl schon mal erzählt?
Schon mindestens dreimal. Es sind gewiss prächtige grüne Hühner gewesen. Und Fliegenpilze und grüne Kartoffeln.
Und Hasen und Pferde. Vor allen Dingen grüne Pferde.
Grüne Tannenbäume.
Und grünes Gras.
Schuberts Geduld. Er springt aus dem Bett. Eli sucht seine Socken, sie hilft, sie knotet die Schuhe mit einem sicheren Doppelknoten.
Sie schaut ihm nach, wie er zum Bus hetzt, sie schließt leise die Pforte, das Internatsportal.
Ölbäume, Weinstöcke, Feigen. So stellt sich Eli eine Landschaft im Tal des Skamander vor. Verschiedene Ulmenarten, eine wuchtige Korkulme, schützende Hecken aus niedrigen Flatterulmen. Ein weiß getünchtes Haus, ringsherum Pflanzkästen aus gebranntem Ton. Hier wohnt der Priester Laokoon mit Frau und Söhnen. In den Tonkästen gedeihen Kräuter, Gemüse, auch Blumen. Vier-
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