Sepia
nächster Gelegenheit, vielleicht, hoffentlich heute Abend noch erzählen, dass er was Tiefes und Großes verpasst hat, wegen einer lumpigen Sitzung, einer Versammlung vielleicht, wo es bestimmt nicht aufgefallen wäre, wenn er gefehlt hätte. Du hast was verpasst, wegen deiner blöden Pflichtgefühle. Er eifert in letzter Zeit mehr alsnotwendig, er wirft sich in den Sand. Der Filmbesuch, der neue Bergman, hätte doch zu seinem Amt gehört. Eli wird ihn bedauern. Wer
Das Schweigen
nicht gesehen hat, lebt im Dunkeln. Eli wird damit bekennen, dass sie ihn sucht. Nicht nur heute, auch gestern, die ganze Woche hat sie ihn nicht gesehen. Seit jener Nacht, in der sie einfach den Morgen und den Tag haben kommen lassen, aus verschiedenen oder gleichen Gründen. Aus gar keinem Grund, denn sie waren längst aufgewacht aus dem Schlaf und aus der Umarmung, sie waren höchstens verfangen in ein Gespräch, das sie auch später, an einem anderen Tag hätten führen können oder gar nicht. Sie hatte ihm, statt im Seminarraum in ihrem Bett, ein langes Kapitel Laokoon vorgelesen, eins, das ihn beruhigen und unterhalten konnte. Trägheit, Trotz, die Lust, das Schicksal einmal zu versuchen. Sollen sie uns doch beide im Nest erwischen. Ein Aufstand wider die Ordnungen. Sie waren aber dann taktisch sehr raffiniert vorgegangen. Einfach so, als wäre nichts. Sie waren gegen Mittag zusammen die Treppe hinuntergegangen, gleichmütig durch den Park, zu zweit, Studentin und Assistent, quer durch das Internatsgelände, geleitet von einem eindeutig fachlich ausgerichteten Gespräch. Statthafte Erscheinungen, gute Mitglieder der Gesellschaft, die sich zufällig eine Stunde vor den Nachmittagslektionen getroffen haben, um das Thema Laokoon zu bewegen. Stimmt sogar, das mit Laokoon. Dann hatten sie an getrennten Tischen in der Mensa Topfwurst mit Sauerkraut gegessen. Eli hatte auf dem Teller herumgestochert. Sie isst nicht gerne Topfwurst, aber das passte sehr gut zum Ablauf eines unbescholtenen Studentenlebens. In der Mitte des Tages Mensaessen.
Eli hatte sich die Milch aus dem Kasten genommen und war zurück ins Tauber-Haus gegangen, um ihre Kapitel voranzubringen. Weiter im Text.
Nach dem Montagsfilm verschwindet Eli immer sofort in ihrer Dachkammer. Manchmal dauert es fast eine Stunde, bevor Schubert kommt. Seit dem Bergman-Film hat sie vorsichtig nach ihm Ausschau gehalten, im Hauptgebäude, im Stalin-Haus, bei den Vorführungen der Studentenfilme. Er sitzt oft ziemlich versteckt im Saal, oft ganz hinten. Er setzt sich auch im richtigen Kino in die letzte Reihe, es macht ihn nervös, wenn hinter ihm vielleicht jemand flucht, weil er dem Hintermann die Sicht nimmt.
So ein Riese bist du nun auch wieder nicht.
Hinten kann ich dich besser küssen. Sie waren bis jetzt nur ein einziges Mal zusammen im Kino, im
Charlott
. Eli weiß nicht mehr, warum sie sich den weiten Weg gemacht hatten. Bestimmt nicht wegen des Films. Die alte Müdigkeit war über Eli gekommen, und sie hatte an Schuberts Schulter geschlafen.
Er hatte ihr mit seinem Taschentuch die Spucke vom Mundwinkel getupft, dadurch war sie kurz aufgewacht. Sie hatte die hellen Stimmen der Matrosen vernommen, ihre einschläfernde Meuterei.
Das war Kino mit Schubert.
Eli sucht, sie irrt durch das Gelände. Bin ich betrunken? In der Verwaltung, unterm Dach bei der Wirtschaftsleiterin, hat Eli nichts verloren. Hier oben, wo die Akten liegen und die Materialien und Gutachten und Schlechtachten, war Eli noch nie. Auch Elis Urkunde liegt hinter einer Tür in einem Schrank, denn die Urkunde war eines Tages von der Wand über dem Regal mit den Siegerpokalen verschwunden. Nicht etwa geklaut wegen des schönen Rahmens, sondern einfach nur abgenommen, weil es Probleme gegeben hatte mit dem Komponisten des Films. Das sind keine Neuigkeiten. Das Neueste erfährt Eli beim Pförtner, weil sie zu seinen Vertrauten gehört.
Schubert hat seine Kampfgruppenuniform abgegeben.
Eli sucht nicht mehr.
Sie ist aufgewühlt und erschöpft zugleich. Das Blei hat sich jetzt unter der Schädeldecke gesammelt, grau und schwer. Sie spannt die Schultern. Streckt den Rücken grade auf ihrem Stuhl vor dem Tisch, der einmal eine Bodenkammertür gewesen war.
Schubert ist nicht gekommen. Wenn ich nicht komme, weißt du, warum.
Kein auf Wiedersehen. Kein Addio. Ich bin Luft geworden.
So hatten es Eli und Schubert schon seit Monaten im Stillen ausgemacht. Freue dich mit mir. Eli freut sich nicht. Sie wartet. Die
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