Septimus Heap 01 - Magyk
BOTENRATTEN
Kundenschalter im Erdgeschoss
neben den Mülltonnen
»Herein!«, rief eine Stimme, die Stanley nicht kannte. Er trat auf Zehenspitzen ein. Der Ton der Stimme gefiel ihm nicht.
Auch das Aussehen der Ratte, der die Stimme gehörte, war nicht unbedingt nach seinem Geschmack. Eine fremde Ratte, fett und schwarz, saß hinter dem Schreibtisch. Ihr rosa Schwanz ringelte sich auf dem Tisch und zuckte ungeduldig, als Stanley seinen neuen Chef in Augenschein nahm.
»Sind Sie die Vertrauensratte, nach der ich geschickt habe?«, bellte die schwarze Ratte.
»Jawohl«, antwortete Stanley, etwas verunsichert.
»Jawohl, Sir, heißt das«, belehrte ihn die schwarze Ratte.
»Oh«, entfuhr es Stanley.
»Oh, Sir«, verbesserte ihn die schwarze Ratte. »Zur Sache, Ratte 101 ...«
»Ratte 101?«
»Ratte 101, Sir ! Ich verlange einen gewissen Respekt, Ratte 101, und ich werde ihn mir verschaffen. Wir führen hier Nummern ein. Jede Botenratte darf nur unter ihrer Nummer bekannt sein. Da, wo ich herkomme, ist eine nummerierte Ratte eine leistungsfähige Ratte.«
»Und wo kommen Sie her?«, wagte Stanley zu fragen.
»Sir! Das geht Sie nichts an«, blaffte die schwarze Ratte. »Zur Sache. Ich habe einen Auftrag für Sie, 101.« Sie fischte ein Blatt Papier aus einem Korb, den sie mit einer Winde vom Kundenschalter unten heraufgekurbelt hatte. Es war der Auftrag, und wie Stanley erkennen konnte, war die Botschaft auf amtlichem Briefpapier mit dem Briefkopf des Wächterpalasts geschrieben. Und vom Obersten Wächter persönlich unterzeichnet.
Doch aus irgendeinem Grund, den Stanley nicht verstand, stammte die Botschaft, die er überbringen sollte, nicht vom Obersten Wächter, sondern von Silas Heap. Und sie sollte Marcia Overstrand überbracht werden.
»Oh, Mist«, fluchte Stanley und ließ den Kopf hängen. Noch eine Reise quer durch die Marram-Marschen, in denen die Marschpython lauerte. Damit hatte er nun wahrlich nicht gerechnet.
»Oh, Mist, Sir!«, verbesserte die schwarze Ratte. »Eine Ablehnung des Auftrags ist nicht möglich«, donnerte sie. »Und noch etwas, 101. Vertrauensstatus entzogen.«
»Was? Das können Sie nicht tun.«
»Sir! Das können Sie nicht tun, Sir. Und ob ich das kann. Ich hab’s schon getan.« Die schwarze Ratte gestattete sich ein selbstgefälliges Grinsen hinter den Schnurrhaaren.
»Aber ich habe alle erforderlichen Examen, und ich habe unlängst erst den Höheren Vertrauensstatus erworben. Außerdem bin ich der Beste!«
»Außerdem bin ich der Beste, Sir! Jammerschade. Trotzdem. Vertrauensstatus aberkannt. Und damit basta. Wegtreten.«
»Aber ... aber«, stammelte Stanley.
»Verschwinden Sie«, brüllte die schwarze Ratte, und ihr Schwanz zuckte gereizt.
Stanley verschwand.
Unten am Kundenschalter erledigte er wie gewöhnlich den Papierkram. Die Bürorratte las die Botschaft sorgfältig durch und tippte mit ihrer Wurstpfote auf Marcias Namen.
»Wissen Sie, wo die zu finden ist?«, erkundigte sie sich.
»Selbstverständlich«, antwortete Stanley.
»Gut, das hört man gern«, sagte die Ratte.
»Komisch«, dachte Stanley bei sich. Er mochte das neue Personal in der Rattenzentrale nicht besonders, und er fragte sich, was aus den netten alten Ratten geworden war, die sie bisher geleitet hatten.
Es war eine lange und gefährliche Reise, zu der Stanley an diesem Mittwintertag aufbrach.
Zunächst fuhr er als blinder Passagier auf einem kleinen Lastkahn, der eine Ladung Holz flussabwärts nach Port beförderte.
Pech nur für Stanley, dass der Kapitän des Kahns eine Katze an Bord hatte und Wert darauf legte, dass sie schlank und rank blieb und das Jagen nicht verlernte. Und sie hatte es nicht verlernt. Die ganze Fahrt über musste Stanley vor ihr flüchten, einem extrem großen, orangefarbenen Exemplar mit großen gelben Fangzähnen und üblem Mundgeruch. Das Glück verließ ihn kurz vor dem Deppen Ditch, als die Katze ihn in die Enge trieb und ein Matrose eine große Planke schwang. Er sah sich gezwungen, früher als geplant von Bord zu gehen.
Das Flusswasser war eiskalt und die Strömung stark. Stanley wurde flussabwärts getrieben und hatte Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Erst im Hafen von Port gelang es ihm, das rettende Ufer zu erreichen.
Er lag am Fuß der Hafentreppe und sah aus wie ein schlappes Stück nasses Fell. Er war zu erschöpft, um weiterzugehen. Stimmen von der Hafenmauer wehten über ihn hinweg.
»Oh, sieh mal, Ma! Da liegt eine tote Ratte auf der Treppe.
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