Septimus Heap 01 - Magyk
erregt, und sie wandte den Blick von den Sternen ab und Tante Zelda zu, die aufmerksam in die Marschen hinausblickte. Der Atem stockte ihr. Zum ersten Mal nahm sie die Augen der Weißen Hexe richtig wahr. Ihr helles Blau drang durch die Nacht und leuchtete in der Dunkelheit.
»So«, sagte Tante Zelda plötzlich, »es wird Zeit, dass wir nach Hause gehen.«
»Aber...«
»Im Sommer erzähle ich dir mehr. Da haben sie mich immer besucht, am Mittsommertag. Dann werde ich auch dich hinbringen.«
»Hinbringen?«, fragte Jenna. »Wohin denn?«
»Komm«, sagte Tante Zelda, »der Schatten da drüben gefällt mir nicht.«
Tante Zelda packte Jenna an der Hand und lief mit ihr durch den Schnee zurück. Draußen in den Marschen brach ein ausgehungerter Marschluchs die Jagd ab und machte kehrt. Er war mittlerweile zu schwach, um die Verfolgung aufzunehmen. Wäre es ein paar Tage früher gewesen, hätte er sich satt fressen und über den Winter retten können. So aber kroch er in seine Schneekuhle zurück und kaute kraftlos an seiner letzten gefrorenen Maus.
Nach Dunkelmond zeigte sich der erste schmale Lichtschimmer des neuen Mondes am Himmel. Jede Nacht wurde er ein bisschen größer. Es schneite nicht mehr und der Himmel war jetzt klar. Nacht für Nacht beobachtete Jenna den Mond vom Fenster aus, während die Panzerkäfer sich verträumt in ihren Einmachgläsern regten und auf den Augenblick ihrer Befreiung warteten.
»Beobachte ihn weiter«, sagte Tante Zelda zu ihr. »Wenn der Mond zunimmt, zieht er die Dinge aus dem Boden. Und die Hütte zieht die Menschen an, die hierher kommen wollen. Bei Vollmond ist die Anziehungskraft am stärksten, genau da bist auch du gekommen.«
Dann, als ein Viertel des Mondes am Himmel stand, ging Marcia.
»Wieso ist Marcia gegangen?«, wollte Jenna von Tante Zelda an jenem Morgen wissen, als sie entdeckten, dass sie fort war. »Ich dachte, Dinge würden zurückkommen, wenn der Mond zunimmt, und nicht fortgehen.«
Tante Zelda schaute bei Jennas Frage missmutig drein. Sie ärgerte sich über Marcias überstürzte Abreise. Außerdem konnte sie es nicht leiden, wenn jemand etwas tat, was ihre Mondtheorien durcheinander brachte.
»Manchmal«, sagte sie geheimnisvoll, »müssen Dinge gehen, um wiederkommen zu können.« Damit stapfte sie in ihren Tränkeschrank und verschloss die Tür hinter sich.
Nicko warf Jenna einen teilnahmsvollen Blick zu, winkte mit ihren Schlittschuhen und grinste. »Wer zuerst beim großen Sumpf ist.«
Jenna lachte. »Letztes Mal gab es ein totes Rennen.«
Bei dem Wort »tot« schreckte Stanley aus dem Schlaf hoch. Die Ratte schlug gerade noch rechtzeitig die Augen auf, um zu sehen, wie Nicko und Jenna ihre Schlittschuhe schnappten und verschwanden.
Als Marcia bei Vollmond noch nicht zurück war, machten sich alle ernsthaft Sorgen.
»Ich habe zu ihr gesagt, dass sie eine Nacht drüber schlafen soll«, sagte Tante Zelda. »Aber nein, aus Ärger über Silas steht sie mitten in der Nacht auf und verschwindet. Seitdem keine Nachricht. Wirklich unmöglich. Dass Silas bei der Kälte nicht zurückkommt, kann ich ja noch verstehen. Aber Marcia?«
»Vielleicht kommt sie heute Nacht«, wagte Jenna zu sagen. »Wo doch Vollmond ist.«
»Vielleicht«, erwiderte Tante Zelda. »Vielleicht auch nicht.«
Natürlich kam Marcia in dieser Nacht nicht zurück. Wie in den zehn vorausgegangenen Nächten lag sie entkräftet im schmutzigen Wasser von Verlies Nummer eins, mitten in einem Wirbel von Schatten. Neben ihr saß Alther Mella und bot alle ihm zu Gebote stehende Geistermagie auf, um sie am Leben zu erhalten. Menschen überlebten den Sturz in Verlies Nummer eins nur selten, und wenn, dann nicht lange, denn nach kurzer Zeit sanken sie hinab zu den Knochen, die dicht unter der Oberfläche des abgestandenen Wassers lagen. Ohne Alther wäre Marcia ohne Zweifel das gleiche Schicksal beschieden gewesen.
Als in besagter Nacht, der Vollmondnacht, der Mond aufging, wickelten sich Jenna und Tante Zelda in Decken und hielten am Fenster nach Marcia Ausschau. Jenna schlief bald ein, doch Tante Zelda wachte die ganze Nacht, bis der Untergang des Vollmonds und der Aufgang der Sonne ihre allerletzte Hoffnung auf eine Rückkehr Marcias zunichte machten.
Am Tag nach Vollmond fühlte sich Stanley kräftig genug, die Heimreise anzutreten. Auch eine Ratte vertrug pürierten Aal nur bis zu einer bestimmten Grenze, und Stanley fand, dass diese Grenze jetzt erreicht war.
Doch bevor er gehen
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