Septimus Heap 02 - Flyte
Nein, danke, Simon. Ich bin wirklich müde.«
»Du glaubst doch nicht, ich würde meinen Ehrengast im Stall schlafen lassen?« Damit packte er sie am Arm und riss sie vom Teppich hoch.
»Komm«, rief er dem grünen Ball zu. Spürnase sprang aus der Nische und hüpfte um seine Beine herum wie ein eifriges Hündchen. Mit einem Tritt beförderte ihn Simon in einen engen Gang, der von der Wurmkammer abging. Dann schob er Jenna vor sich her zu dem Tunnel und stieß sie unsanft hinein.
Der Boden war mit losem Schiefer bedeckt, und Jenna geriet mehrmals ins Straucheln, ehe sie an den Fuß einer steilen Treppe gelangten, die in den Fels gehauen war.
»Rauf da!«, bellte Simon. Spürnase hüpfte auf die erste Stufe und machte sich an den Aufstieg. Simon gab Jenna einen Stoß. »Du auch. Mach schon.«
Jenna ging die Stufen hinauf. An der Wand war ein dickes Tau angebracht. Daran hangelte sie sich erschöpft höher und höher, immer dem Ball nach, der keinerlei Anzeichen von Ermüdung erkennen ließ. Simon blieb dicht hinter ihr, und sie konnte hören, dass sein Atem schneller ging, je höher sie kamen. Bald wurde die Luft frischer, und sie schöpfte wieder etwas Mut, als sie begriff, dass sie in die Außenwelt zurückkehrten. Dann hatte Spürnase endlich die oberste Stufe erreicht. Simon fasste Jenna an der Schulter.
»Du wartest hier«, sagte er. Er gab dem Ball einen Tritt, trat durch einen hohen Bogengang und verschwand in der Dunkelheit. Zitternd vor Kälte und Erschöpfung blieb Jenna auf der obersten Treppenstufe stehen und zog den Mantel enger. Sie spähte in das Dunkel, konnte aber nichts erkennen, doch sie spürte vereinzelte Regentropfen im Gesicht. Sie streckte die Zunge heraus, um sie aufzufangen und die frische Luft zu schmecken.
Nach ein paar Minuten kam Simon mit einer Glühlampe zurück, einer langen Glasröhre, randvoll mit sich windenden Glühraupen, die er eilends aus der Raupentonne in die Röhre geschaufelt hatte. Die fassfrischen Glühraupen leuchteten hell.
Simon winkte Jenna durch den Bogengang, doch sie zögerte. »Meinetwegen kannst du die ganze Nacht da draußen bleiben«, sagte er, »aber das würde ich dir nicht raten. Am Fuß der Treppe ist eine Magog-Kammer. Hast du sie nicht bemerkt?«
Jenna kannte die Magogs noch von DomDaniels Schiff und gelangte, wenn auch ungern, abermals zu dem Schluss, dass Simon das kleinere Übel war.
Sie folgte ihm durch den Bogengang.
* 18 *
18. Die Camera obscura
» W i llkommen im Observatorium, meinem Zuhause«, sagte Simon und gestattete sich, für einen Augenblick in die Rolle des großen Bruders zu schlüpfen, der sich vor der Schwester aufspielte. »Komm rein und sieh dich um.«
Jenna schritt durch den Bogengang, und eine schreckliche Angst befiel sie. Sie spähte in das Halbdunkel. Hier war es kalt und unheimlich. Sie spürte, dass Schwarze Magie in der Luft lag. Obwohl die Glühraupen sich alle Mühe gaben, konnte Jenna wenig mehr als eine große weiße Scheibe erkennen, die wie der Mond leuchtete und über dem Fußboden zu schweben schien. Simon stieß sie in Richtung der Scheibe, aber sie sträubte sich.
»Nun mach schon«, sagte er, schob sie vorwärts und brachte sie für einen Moment ganz durcheinander, indem er wie früher zu ihr sprach. »Das wird dir gefallen. Das gefällt allen Kindern.«
»Ich bin kein Kind mehr!«, sagte Jenna. »Ich bin ...«
»Ja, ja, ich weiß. Du bist die Prinzessin vom hohen Ross. Es wird dir trotzdem gefallen. Einerlei, was du bist. Ich nehme jetzt den Deckel von der Linse, dann wirst du sie sehen, meine Camera obscura.«
Ein Schauder ergriff Jenna. Wo hatte sie dieses Wort schon einmal gehört? Hatte nicht DomDaniels Lehrling, dieser unausstehliche Junge, damit geprahlt, dass er eine Camera obscura besitze? Ein seltsames Geräusch ertönte weit über ihr. Sie blickte nach oben und konnte undeutlich eine hohe gewölbte Decke ausmachen und einen langen Holzbalken, der in der Mitte herabhing. Was war das?
»Hör auf zu träumen«, herrschte Simon sie an, »und schau auf die Schüssel.«
Jenna blickte auf die große weiße Scheibe vor ihr, und zu ihrem Erstaunen erschien dort ein gestochen scharfes Bild der Schlucht, durch die sie vorhin geritten waren.
»Gut, was?«, feixte Simon. »Besser als der ganze Hexenkram der alten Zelda. Das da, Schwesterchen, ist die wirkliche Welt.«
Jenna wusste, dass er auf jene Nacht anspielte, in der die Heaps auf einer wackligen Brücke gestanden und im Vollmondlicht
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