Septimus Heap 02 - Flyte
atmender Drache war – Tante Zelda hatte es ihm verschwiegen, weil sie wusste, dass er gern Lebewesen quälte. Viele, viele Jahrhunderte zuvor war das Drachenboot noch ein vollständiger Drache gewesen. Er gehörte zu den ganz wenigen, die von Menschen ausgebrütet wurden. Hotep-Ra, der erste Außergewöhnliche Zauberer, brütete ihn aus, lange bevor er daran dachte, in die Burg zu reisen und den Zaubererturm zu bauen. Viele Jahre später, als Hotep-Ra in einer furchtbaren Nacht aus seinem Heimatland fliehen musste und sich nach Norden aufmachte, verwandelte sich der Drache in ein schönes Schiff, um seinen Meister vor den Verfolgern zu retten. Er war ein großzügiges Geschenk, denn ein Drache kann sich nur einmal in seinem Leben einer solchen Verwandlung unterziehen. Hotep-Ras Drache wusste also, dass er bis zum Ende seiner Tage ein Boot bleiben würde.
Der Bug des Bootes war der lebende Hals und Kopf des Drachen, das Heck sein mit Stacheln bewehrter Schwanz. Seine Flügel bildeten die Segel und lagen zusammengefaltet an den Längsseiten des großen hölzernen Rumpfes. Aus den Rippen des Drachen waren bei der Verwandlung die Spanten des Rumpfes geworden, auf denen die gebogenen Holzplanken ruhten, und aus dem Rückgrat, das den Rumpf in seiner gesamten Länge durchzog, der Kiel. Tief unten in einem verschlossenen Laderaum, den kein Mensch jemals geöffnet hatte, nicht einmal Tante Zelda, schlug leise und langsam sein Herz.
Im Schein der Laterne sah Merrin, wie Tante Zelda mit der Prinzessin zum Drachenboot hinunterging. Eine Zeit lang standen sie vor dem Bug und schauten zu dem grünen und goldenen Kopf des Drachen hinauf. Dann sah Merrin zu seinem Erstaunen, wie der Drachenkopf sich bewegte. Die Prinzessin blieb reglos im gelben Lichtkegel der Laterne stehen, während der Bug des Bootes sich zu ihr herunterneigte, bis der Kopf auf der Höhe ihres Gesichts war. Die smaragdgrünen Augen des Drachen sahen sie an und warfen ein sattes grünes Licht auf ihr dunkles Haar. Es ist, als ob sie ohne Worte miteinander sprechen, dachte Merrin. Dann fasste die Prinzessin nach oben und streichelte dem Drachen die Nase, und irgendwie konnte man sehen, dass die Nase warm und weich war. Merrin hätte den Drachen auch gern gestreichelt, aber er wusste, dass ihm das nicht zustand. Mit Genugtuung stellte er fest, dass dies auch für Septimus Heap galt, und auch für den anderen Jungen, den Raufbold, der ihn »Schwein« genannt hatte. Die beiden standen abseits im Dunkeln und sahen nur zu, genau wie er.
Merrin beobachtete, wie Jenna ihr Ohr dicht an den Drachenkopf hielt. Er glaubte zu sehen, wie ihr Lächeln erstarb und einem Stirnrunzeln wich, und er fragte sich, was der Drache wohl zu ihr gesagt hatte. Er wollte immer wissen, worüber die Leute sprachen. Als DomDaniels Lehrling hatte er die Gewohnheit angenommen, andere zu belauschen, wenn sie etwas planten und ausheckten, hauptsächlich deshalb, weil nie jemand mit ihm sprach und weil es für ihn die einzige Möglichkeit war, den Klang einer menschlichen Stimme zu hören, die ihn nicht anbrüllte. Die Szene am Mott hatte seine Neugier geweckt, und so hüpfte er jetzt ungehalten am Fenster herum. Wie gern hätte er gehört, was dort gesprochen wurde.
Was Merrin nicht wusste: Niemand konnte hören, was gesprochen wurde. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getrogen. Jenna und der Drache sprachen tatsächlich ohne Worte miteinander, so wie es alle Königinnen zu allen Zeiten mit dem Drachenboot getan hatten. An jedem Mittsommertag, wenn die Macht des Drachenbootes ihren Höhepunkt erreichte, stattete die Königin der Burg dem Boot einen Besuch ab. Der erste Besuch einer Burgkönigin lag viele, viele Jahrhunderte zurück. Damals wurde das Drachenboot noch von Hotep-Ras Bootsbauern repariert, nachdem es auf der Fahrt zur Burg in der Flussmündung Schiffbruch erlitten hatte. Diese Besuche waren fröhliche Feste, und in der klaren Luft der Marschen kam das Drachenboot wieder zu Kräften. Doch als Hotep-Ra alt wurde, seine Macht schwinden sah und seine Pläne aufgeben musste, fürchtete er um die Sicherheit des Drachenbootes und ließ es auf der Insel, auf der Tante Zelda jetzt lebte, in einem alten unterirdischen Tempel einmauern. Auf seinen Befehl hin wurde das Boot fortan von einer Hüterin bewacht und an jedem Mittsommertag von der gerade herrschenden Königin besucht. Niemand wusste, warum der Besuch sein musste, denn Hotep-Ras schriftliche Aufzeichnungen waren verloren
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