Septimus Heap 04 - Queste
Sehzauber durchzuführen. Und als sie zu ihrem Entsetzen sah, wie sich das Gespenst mit einem Sack, der etwas Dunkelmagisches enthielt, über den Brunnen beugte, ihren schönen, klaren, sauberen und reinen Brunnen, da kehrten all ihre magischen Kräfte zurück. Sie sah dem Gespenst in die Augen – soweit das bei dessen ausweichendem, fahrigem Blick überhaupt möglich war – und sprach ganz langsam:
Dieser Brunnen soll bleiben rein und klar,
Gegen Böses gefeit über Tag und Jahr.
Das Gespenst funkelte Sarah erbost an, doch da war nichts zu machen. Es warf sich den Sack mit den Knochen über die Schulter und trollte sich. Sarah sah ihm nach, bis es den Gemüsegarten verlassen hatte, dann war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen. Vor Schreck über das Gesehene begann sie zu zittern, rannte wieder nach drinnen und setzte sich zu Ethel.
Das Gespenst wartete, bis Sarah im Palast verschwunden war, dann kehrte es in den Garten zurück. Da es die Knochen nicht wie befohlen im Brunnen versenken konnte, entschied es sich für den Schuppen und stellte den Sack vorsichtig zwischen gestapelte Blumentöpfe und sonstigen Gartenkram. Dann lief es mit federnden Schritten zu der halb offenen Tür, die in den Palast führte, und kroch in einen dichten Busch, um dort zu warten, bis der Meister wieder herauskam.
Der Palast war nicht so, wie Merrin erwartet hatte. Er roch eigenartig – feucht und alt, und in den Ecken lauerten unangenehme Küchendünste. Und als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er, dass er auch nicht schön aussah. Der Putz war rissig und bröckelte von den Wänden, und wo Merrin ihn leicht gestreift hatte, war sein schwarzer Umhang voller Staub. Vor ihm erstreckte sich ein scheinbar endloser, mit Steinplatten ausgelegter Korridor, der unter dem Namen Langgang bekannt war. Er war so breit wie eine schmale Straße, und in der Mitte lag ein abgetretener roter Teppich. Merrin schlich vorsichtig weiter. Alle paar Meter ging eine offene Tür vom Korridor ab, und zu Anfang blieb er bei jeder stehen, da er befürchtete, es könnte jemand herauskommen. Doch im Moment wohnten im Palast nur Sarah, Silas und Jenna Heap – und Maxie, der Wolfshund. Dienstboten waren nicht Sarahs Sache, sie machte lieber alles selbst. Und die wenigen, die sie eingestellt hatte, waren heute Morgen woanders. Die Köchin weilte in der Küche und schwatzte mit der Putzfrau, der Spüljunge hielt in der Speisekammer ein Nickerchen, und die Hauswirtschafterin war wegen einer schweren Erkältung zu Hause geblieben.
Bald begriff Merrin, dass der Palast verlassen war, und wurde mutiger. Im Vorbeigehen verteilte er Knuffe an die merkwürdigen Gegenstände, die im Langgang ausgestellt waren. Da gab es Statuen in allen Größen und Formen, von Tieren, Menschen und jener Art unheimlicher Kreaturen, wie sie Merrin oft in schlechten Träumen erschienen. Außerdem hohe Vasen, ausgestopfte Tiger, einen alten Streitwagen, versteinerte Bäume, Schrumpfköpfe, Galionsfiguren von Schiffen und allen möglichen sonstigen Plunder. An den Wänden hingen alte Ölgemälde längst verstorbener Königinnen und Prinzessinnen, und wenn Merrin zu ihnen aufschaute, war er sich sicher, dass ihre Augen ihm folgten. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass eine von ihnen aus dem Bild fasste, ihn auf die Schulter tippte und fragte, was er hier verloren habe.
Doch sie taten es nicht. Keine.
Nach einer Weile gelangte er an einen zerrissenen und verblichenen roten Samtvorhang. Er war zurückgeschlagen, und dahinter sah er eine steile und schmale Treppe, die sich nach oben in die Dunkelheit schraubte. Das gefiel ihm schon eher. Was ihm vorschwebte, war ein Zimmer unterm Dach, in dem er sich verstecken, Pläne schmieden und das Kommen und Gehen im Palast beobachten konnte. Kurz entschlossen schlüpfte er hinter den Vorhang. Bald schlich er auf Zehenspitzen die knarrenden Stufen hinauf, vorbei an feuchten, sich ablösenden Tapeten. Er musste sich durch dicke Spinnweben kämpfen, und einmal brach er zu seinem Entsetzen durch das verfaulte Holz einer Stufe, sodass sein Fuß in der Luft baumelte. Er kam an einem Treppenabsatz vorbei, auf dem leere alte Kisten gestapelt waren, dann folgten zwei weitere Treppen, bis er schließlich in ein Gewirr kleiner Dachstuben gelangte, das sich über die gesamte Länge des Palastes hinzog. In früheren Zeiten, als der Palast noch von Dienstboten und Lakaien wimmelte, hatten hier die ranghöheren Angestellten gewohnt,
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