Septimus Heap 05 - Syren
Bug, wo er stehen blieb und trübselig durch den Nebel zu der verschwommenen Silhouette der Insel blickte, die so unerwartet, so unnatürlich nahe war.
Benommen hörte er, wie Jem die Stufen an der Seite hinabstieg, dann die Strickleiter auswarf, um auf den Sand zu gelangen. Er hörte ein Plätschern im seichten Wasser und dann Jems Ruf: »Der Meeresboden besteht aus Sand, Sir ... Hier haben wir einen kleinen Kratzer ... nicht allzu schlimm ... ah ... oh.« Und dann wieder Plätschern.
Milo schlug die Hände vors Gesicht. Er dachte an die kostbare Kracht, die unten im Laderaum festgezurrt war. Der Lohn für eine jahrelange Suche, die ihn zunächst von seiner Frau und dann von seiner Tochter ferngehalten hatte. Törichte Jahre, dachte Milo, törichte Jahre, die nun ein solches Ende fanden. Er stellte sich vor, wie die Cerys bei der nächsten Flut volllief, wie das Meerwasser hereinströmte, die große Truhe umspülte, sie für alle Zeiten überflutete, ihren kostbaren Inhalt dem Meeresboden überantwortete, ehe sie an die Küste dieser einsamen Insel geschwemmt wurde.
Milo blickte über den Bug hinaus, der noch höher emporragte als sonst, weil die Cerys im Sand aufsaß und sich in einem unnatürlichen Winkel nach hinten neigte. Er spähte durch den Nebel zu dem Licht auf der Spitze der Zinne und erkannte, dass es kein Feuer war, wie der erste Offizier behauptet hatte. Während er noch das Licht betrachtete und rätselte, was es genau war, begann der Nebel, sich zurückzuziehen. Milo überlief es kalt, denn der Nebel verhielt sich so, wie sich kein Nebel verhalten sollte – er glitt den felsigen Hügel hinauf zu einem kleinen Turm, der oben auf der Kuppe stand, als sei er eine Angelschnur, die von einem Fischer aufgerollt wurde, eine Angelschnur, wie Milo spöttisch dachte, an deren Ende ein dicker Fisch namens Cerys hing. Er erschauderte. Hier ging etwas Merkwürdiges vor, und ganz besonders merkwürdig war der Turm – er wollte ihn sich genauer ansehen.
»Fernrohr!«, brüllte er.
Sekunden später war ein Besatzungsmitglied mit seinem Fernrohr bei ihm. Milo setzte das kunstvoll verzierte Messingrohr ans Auge und richtete es auf den Turm. An der Spitze lief eine sonderbare blaue Lichterkette um den Turm. Sie erinnerte Milo an eine Seefahrergeschichte, die Piraten auf Deakin Lees Schiff gern spät in der Nacht erzählt hatten. Sie handelte von den auf alle sieben Weltmeere verstreuten Inseln der blauäugigen Sirenen, die mit ihren Stimmen Seeleute riefen und betörten und sie mit ihren Schiffen auf Felsen lockten.
Milo beobachtete, wie sich der Nebel den Hang hinaufwälzte und durch die blau erleuchteten Fenster in den Turm strömte, und er begann sich zu fragen, ob es tatsächlich Nickos Verschulden war, dass sie auf Grund gelaufen waren. Er beschloss, ein ruhiges Wort mit dem Jungen zu reden. Im selbem Moment hörte er eine Mädchenstimme von unten rufen. Sie klang wie – aber das konnte doch unmöglich sein – die seiner Tochter.
»Seht ihr, es ist die Cerys! Ich hab’s gewusst. He, Nicko! Milo!«
Jetzt wusste Milo, dass es stimmte – es war tatsächlich eine von diesen berüchtigten Sireneninseln.
»He ... hallo, Milo ... Vater! Schaut herunter. Ich bin’s, Jenna!«
Milo hielt sich die Ohren zu. »Verschwinde!«, brüllte er. »Lass uns in Ruhe!«
Weit unten, an der Spitze eines kleinen Trupps von Möchtegernrettern, die durchs seichte Wasser wateten, hörte Jenna sein Brüllen. Ärgerlich drehte sie sich zu Septimus und Beetle um. »Typisch«, sagte sie.
»Pst!«, zischte Septimus. »Da kommt jemand. Schnell, alles runter.« Er duckte sich hinter den großen Felsen, den die Cerys um ein Haar gerammt hätte, und zog Jenna mit. Beetle, Wolfsjunge und Lucy taten es ihm schnell nach.
»Was ist los, Sep?«, murmelte Beetle, der auf einer Napfschnecke kniete, zum Unbehagen beider Beteiligten.
Septimus deutete auf die sich aufbäumende Masse der Cerys, die jetzt ganz anders aussah als in Hafen Zwölf am Handelsposten, als er sie in ihrer ganzen Pracht gesehen hatte. Jetzt, aus der Napfschnecken-Perspektive, wirkte sie mit ihrem gewaltigen rundlichen Bauch nicht mehr schnittig, sondern klobig wie ein gestrandeter Wal. Der obere Teil war zwar noch elegant, und der goldene Streifen glänzte im Schein der Lichtsphäre, doch unter der Wasserlinie war der Rumpf schmutzig und mit Muscheln verkrustet. Aber Septimus wollte nicht auf den traurigen Anblick der Cerys hinweisen, sondern auf die unverwechselbaren
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