Septimus Heap 05 - Syren
Wolverinen umzingelt wurden – vollkommen allein. Aber nun war er nicht mehr allein ... ein anderer Mensch war mit im Raum.
Linda zerrte Lucy, durch die Müllhaufen stapfend, quer durch die Küche. Vor Wolfsjunge blieb sie stehen und drückte ihm Lucys Zöpfe in die Hand, als übergebe sie ihm Zügel. Wolfsjunge nahm sie widerstrebend und warf Lucy einen entschuldigenden Blick zu. Lucy fing den Blick auf, funkelte die umstehenden Hexen an und warf trotzig den Kopf zurück. Sie erinnerte Wolfsjunge an ein unberechenbares Pony.
Er fragte sich, warum die Hexe ihm Lucys Zöpfe zum Halten gegeben hatte – was hatten sie vor? Wie zur Antwort auf seine Frage kam die Hexenmutter auf ihren Dornenschuhen auf ihn zugewankt und blieb so dicht vor ihm stehen, dass er ihren Katzenatem riechen und die roten Flecken in den Rissen ihrer Schminke sehen konnte.
Mit einem schmutzigen Finger, an dem ein loser schwarzer Fingernagel hing, deutete sie auf Lucy. »Verfüttere das da an den Grim«, zischte sie. Dann wirbelte sie auf ihren spitzen Absätzen herum und wackelte zur Leiter zurück.
Wolfsjunge war entsetzt. »Nein!«, schrie er, wobei seine Stimme eine Oktave höher sprang.
Die Hexenmutter blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Was hast du gesagt?«, fragte sie eisig. Die anderen Hexen traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Wenn die Hexenmutter in diesem Ton sprach, drohte Ungemach. Aber Wolfsjunge ließ sich nicht einschüchtern. Er erinnerte sich genau an Tante Zeldas Worte: Alles Menschliche darfst du zurückweisen.
»Nein«, wiederholte er bestimmt.
»Hexenmutter«, rief Linda, »lass mich das kleine Miststück an den Grim verfüttern.«
Die Hexenmutter blickte stolz auf Linda. Sie hatte eine würdige Nachfolgerin auserkoren. »Also gut«, sagte sie.
Lindas Gesicht verzog sich zu diesem grausigen Grinsen, das die Hexenmutter so sehr liebte.
Wolfsjunge bemerkte, dass Lucy die Muskeln anspannte wie eine Wolverine, die zum Sprung ansetzte. Sie suchte mit den Augen einen Fluchtweg, aber das hatte er bereits getan. Es gab keinen – nur den Weg in den Keller. Zwei Hexen hatten sich an der Küchentür postiert, und Dorinda lauerte am Fuß der Leiter. Es gab kein Entrinnen.
Vor Wolfsjunge und Lucy lag ein stinkender Abfallhaufen, den Linda nun abzutragen begann. Wolfsjunge zog sanft an Lucys Zöpfen, und sie wichen den umherfliegenden Rübenstücken und Kaninchenteilen aus. Kein Teil der Küche blieb von dem Müllregen verschont, und nach kurzer Zeit war von dem Haufen nur noch eine zusammengepresste schwarze Kruste aus alten Gemüseschalen und Knochen übrig.
Zufrieden betrachtete Linda ihr Werk. Dann drehte sie sich zu Lucy um und deutete auf die eklige Pampe. »Kratz das ab, du Krötengesicht«, zischte sie.
Lucy rührte sich nicht von der Stelle. Dorinda – die vor Linda Angst hatte und immer versuchte, behilflich zu sein – nahm einen Spaten von einem Werkzeughaufen in der Ecke und reichte ihn Lucy. Linda funkelte Dorinda zornig an: dass Lucy die Schweinerei damit beseitigte, hatte nicht in ihrer Absicht gelegen. Lucy ergriff den Spaten, aber Linda war nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie Lucy nach ihr schielte. »Ich mach das«, blaffte sie und entriss Lucy den Spaten.
Lindas wütendes Schaufeln förderte eine zerquetschte tote Katze, ein Rattennest mit drei Jungen – das sie mit dem Spaten plattmachte – und schließlich eine schwere Falltür aus rostigem Eisen zutage.
»Oooh«, trillerte Dorinda nervös.
Stille trat ein, und alle starrten auf die Falltür. Niemand, nicht einmal die Hexenmutter, wusste, was sich darunter verbarg. Natürlich hatten sie alle Geschichten gehört, und wenn an diesen Geschichten nur ein Fünkchen Wahrheit dran war, dann hauste da unten mit Sicherheit kein sanftes Kuscheltier. Plötzlich hob Linda mit einer dramatischen Geste – denn Linda hatte einen Hang zum Dramatischen – die Arme und stimmte einen hohen, klagenden Gesang an: »Mirg ... Mirg ... Mirg ... chaw fua. Mirg ... Mirg ... Mirg ... chaw fuaaaaaaaaa!«
Wolfsjunge hatte in seiner Zeit bei Tante Zelda genug gelernt, um zu wissen, dass dies ein Umkehrzauberspruch war. Und selbst wenn er es nicht gewusst hätte, so hätte ihm die seltsame, katzenhafte Art, wie Linda die Worte jaulte, das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die vor ihm stehende Lucy erzitterte. Sie drehte sich nach ihm um, und das Weiße in ihren Augen schimmerte. Zum ersten Mal sah sie ängstlich aus.
Das Gejaule
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