Septimus Heap 05 - Syren
letzten Fetzen des Briefs hinuntergewürgt. Dann holte er tief Luft und sammelte seine Gedanken. Dabei ging eine unterschwellige Veränderung mit ihm vor. Zwei Mädchen, die vorbeikamen und bei seinem Anblick eben noch gekichert hatten, verstummten, denn mit einem Mal sah der Junge mit den Filzlocken auf der Treppe gar nicht mehr wie ein Junge aus, sondern eher wie ein ... Wolf. Sie hakten sich beieinander unter, hasteten weiter und erzählten später ihren Freundinnen, sie hätten vor dem Haus des Porter Zirkels einen leibhaftigen Hexenmeister gesehen.
Wolfsjunge war in die Zwischenwelt seiner wölfischen Art eingetaucht – wie immer, wenn er sich in Gefahr wähnte –, und mit geschärften Sinnen für das, was ihn umgab, nahm er nun die Haustür des Porter Hexenzirkels in Augenschein. An der Tür waren übereinander drei Türklopfer angebracht. Der untere war ein kleiner Eisenkessel, der mittlere ein geringelter, silberner Rattenschwanz und der obere eine fette, warzige Kröte, die sehr echt aussah.
Wolfsjunge fasste nach dem Krötentürklopfer, und die Kröte bewegte sich! Wolfsjunge zog die Hand zurück, als wäre er gebissen worden. Die Kröte war echt. Sie hockte auf dem Türklopfer und glotzte ihn aus kleinen dunklen Amphibienaugen an. Wolfsjunge ekelte sich vor allen schleimigen Dingen – was wahrscheinlich der Grund war, warum er Tante Zeldas Essen nicht mochte –, aber er wusste, dass er den Krötentürklopfer anfassen musste und dass er wahrscheinlich nicht das Schlimmste war, das er würde anfassen müssen. Er biss die Zähne zusammen und streckte erneut die Hand aus. Die Kröte blähte sich auf das Doppelte ihrer Größe auf, sodass sie aussah wie ein kleiner krötenförmiger Luftballon. Sie begann zu zischen, aber diesmal zuckte Wolfsjunge nicht zurück. Als seine Hand die Kröte langsam umschloss, hörte die Kreatur auf zu zischen und schrumpfte auf Normalgröße zurück – an dieser schmutzigen Hand, an der Spürnase einst Brandnarben hinterlassen hatte, haftete noch schwarze Magie, die sie witterte.
Zu Wolfsjunges Überraschung schlüpfte die Kröte unter seiner Hand hervor, hüpfte von dem Türklopfer hoch, hob ihn an und ließ ihn krachend gegen die Tür fallen. Dann nahm sie wieder ihren Platz oben auf dem Klopfer ein und klappte die Augen zu.
Wolfsjunge stellte sich auf eine Wartezeit ein, aber er brauchte nicht lange zu warten. Bald hörte er schwere Schritte auf nackten Dielen, und im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen. Eine junge Frau in einem zerlumpten und fleckigen schwarzen Kleid spähte heraus. Sie hatte ein rosafarbenes Handtuch um den Kopf gewickelt und glotzte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Beinahe hätte sie wie gewöhnlich nur ein kurzes »Ja?« geblafft, aber dann fiel ihr wieder ein, dass die Dunkelkröte geklopft hatte. Sie straffte die Schultern, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass das Handtuch nicht verrutschte, und sagte mit ihrer dienstlichen Hexenstimme, die seltsam piepsig klang und sich am Ende des Satzes in die Höhe schraubte: »Was verschafft uns die Ehre?«
Wolfsjunges Kopf war wie leer gefegt. Der Geschmack von getrockneten Kohlblättern und zerquetschten Käfern füllte wieder seinen Mund. Was sollte er noch mal sagen? Er konnte sich nicht erinnern. Er starrte die junge Frau an. Besonders Furcht einflößend sah sie nicht aus. Sie hatte große blaue Augen und eine leicht zerdatschte Nase. Ja, sie machte eigentlich einen ganz netten Eindruck – obwohl irgendetwas an ihr merkwürdig war, auch wenn er nicht recht dahinter kam, was. Huch! Was war das denn? Ein seltsames graues Ding, lappig und stoppelig, war unter dem Handtuch hervorgerutscht.
Die junge Hexe, deren Name Dorinda war, machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen.
Da endlich fiel Wolfsjunge wieder ein, was er sagen musste. »Ich bin gekommen, den Grim zu füttern.«
»Was?«, rief Dorinda. »Das soll wohl ein Scherz sein?« Doch dann besann sie sich darauf, was sie zu sagen hatte. Sie rückte noch einmal das Handtuch zurecht und sprach, wieder mit ihrer Quieksstimme: »So sei es. Tritt ein, Grimfütterer.«
Leider war es kein Scherz, dachte Wolfsjunge im Stillen, als er den Fuß in das Haus des Porter Hexenzirkels setzte und die Tür hinter ihm zufiel. Er wünschte, es wäre einer gewesen. Nichts hätte er jetzt lieber getan, als wieder auf die sonnige Straße zu treten und den ganzen Weg in die Marschen, wo er hingehörte, zurückzurennen. Der Gedanke an die Marschen
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