Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
von ihm hörte ich nicht, denn ich hatte plötzlich eine Vision.
Diesmal war es allerdings keine Erinnerung meiner Mutter. Ich blieb ich selbst, war aber scheinbar körperlos und blickte auf eine blühende Hafenstadt hinab, die sich zwischen die Berge der Küste schmiegte. Ich sah sie nicht nur, ich roch sie auch. Es roch nach Markt, nach Fischen und Gewürzen, und ich spürte die salzige Meeresbrise auf meinem körperlosen Gesicht. Ich schwebte wie eine Lerche am makellos blauen Himmel, kreiste über weißen Kuppeln und Turmspitzen und glitt über die geschäftigen Hafenkais hinweg. Ein prächtiger Tempelgarten mit plätschernden Brunnen und blühenden Zitronenbäumen zog mich an. Dort war etwas, was ich sehen sollte.
Nein, jemand. Ein kleiner Junge von etwa sechs Jahren hing kopfüber wie eine Fledermaus in einem stacheligen Feigenbaum. Seine Haut war so braun wie ein frisch gepflügtes Feld, seine Haare schimmerten wie eine flauschige braune Wolke und seine Augen waren lebhaft und hell. Er aß eine Orange, einen Schnitz nach dem anderen, und schien rundum zufrieden. Er blickte aufmerksam – und durch mich hindurch, als wäre ich unsichtbar.
Ich fand gerade lange genug wieder zu mir zurück, um Luft zu holen, dann überkamen mich zwei neue Visionen in kurzer Folge. Ich sah einen muskelbepackten Samsamesen aus dem Hochland, der auf dem Dach einer Kirche Dudelsack spielte, dann eine geschäftige alte Frau mit dicker Brille, die einem Koch das Fell gerben wollte, weil er zu viel Koriander in den Auflauf gegeben hatte. Jede neue Vision verschlimmerte meine Kopfschmerzen. In meinem umgestülpten Magen war nichts mehr, was er noch hätte hergeben können.
Die darauf folgende Woche war ich bettlägerig; die Visionen kamen so schnell und mit solcher Wucht, dass ich, wenn ich aufzustehen versuchte, unter ihrer Last zusammenbrach. Ich sah fratzenhafte und verunstaltete Menschen: Männer mit Kehllappen und Klauen, Frauen mit Stummelflügeln und ein großes Tier, das aussah wie eine Schnecke und Schlamm aufwühlte. Bei ihrem Anblick schrie ich, bis ich heiser wurde, schlug auf meinem verschwitzten Bettlaken um mich und jagte meiner Stiefmutter Angst und Schrecken ein.
Mein linker Unterarm und meine Taille juckten und brannten; es bildeten sich nässende, verkrustete Flecken. Ich kratzte wie wild daran, aber das machte es nur noch schlimmer.
Ich bekam Fieber, konnte kein Essen bei mir behalten. Orma blieb während der ganzen Zeit bei mir, aber ich litt unter der Vorstellung, dass sich unter seiner Haut – unter der Haut eines jeden Menschen – lediglich ein Hohlraum befand, ein tintenschwarzes Nichts. Er krempelte meine Ärmel hoch, um sich meinen Arm anzusehen, und ich schrie auf, weil ich glaubte, er würde meine Haut zurückschieben und die Leere darunter sehen.
Am Ende der Woche waren die entzündeten Stellen auf meiner Haut verkrustet, der Schorf löste sich allmählich ab, und blasse, runde Schuppen kamen zum Vorschein. Sie waren so weich wie die Haut einer frisch geschlüpften Schlange und reichten von der Unterseite meines Handgelenks bis zur Ellbogenspitze. Ein noch etwas breiteres Band hatte sich um meine Taille gelegt wie ein Gürtel. Als ich das sah, schluchzte ich, bis ich nicht mehr konnte. Orma saß ganz ruhig neben dem Bett, blickte starr vor sich hin und hing seinen unergründlichen Drachengedanken nach.
»Was soll ich jetzt nur mit dir machen, Serafina?«, fragte mein Vater. Er saß hinter dem Schreibtisch und blätterte nervös in seinen Schriftstücken. Ich kauerte ihm gegenüber auf einem Schemel. Es war der erste Tag, an dem es mir so gut ging, dass ich mein Zimmer verlassen konnte. Orma hatte sich auf dem geschnitzten Eichenholzstuhl vor dem Fenster niedergelassen, das graue Morgenlicht umstrahlte seinen wirren Haarschopf. Meine Stiefmutter Anne-Marie hatte uns Tee gebracht und war sofort wieder gegangen. Sie musste sich um meine jüngeren Stiefgeschwister Tess, Jeanne, Paul und Ned kümmern, die aufgekratzter waren als ein Sack Flöhe. Ich war die Einzige, die etwas von dem Tee nahm. Aber er wurde kalt in meiner Tasse.
»Was hättest du denn gern mit mir gemacht?«, fragte ich mit einem Anflug von Bitterkeit und fuhr mit dem Daumen den Rand meiner Tasse nach.
Papa zuckte mit den schmalen Schultern und sah mich mit seinen meergrünen Augen gedankenverloren an. »Ich hatte gehofft, dich verheiraten zu können, aber das war, bevor diese grässlichen Male auf deinem Arm zum Vorschein kamen und
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