Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
Orma, nicht im Geringsten beleidigt. »Ein Drache ohne Sitte und Anstand würde auf diese Idee kommen und sie in die Tat umsetzen wollen –«
»Wie denn, etwa mit Gewalt?« Papas Mund zuckte, als hätte er schon bei dem bloßen Gedanken Galle im Mund.
Orma achtete nicht auf seinen Einwand, sondern beendete seinen Gedankengang. »Und danach würde er die Ergebnisse des Versuchs aufzeichnen. Aber vielleicht besitzt unsere Art gar nicht so wenig Anstand, wie man hier im Süden für gewöhnlich glaubt.«
Ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Mir war schwindelig und ich fühlte mich wie ausgehöhlt. Ein kalter Luftzug, der unter der Tür durchwehte, ließ mich schwanken. Alles war mir genommen worden: meine Menschenmutter, mein eigenes Menschsein, und alle Hoffnung, meines Vaters Haus je verlassen zu können.
Ich sah die entsetzliche Leere hinter allen Dingen; sie drohte, mich zu verschlingen.
Sogar Orma fiel meine Verwirrung auf. Erstaunt legte er den Kopf schief. »Überlass mir ihre Erziehung, Claude«, sagte er und lehnte sich zurück. Er wischte mit den Fingerspitzen das Wasser weg, das sich an den Bleiglasscheiben des kleinen Fensters gesammelt hatte.
»Dir?«, höhnte mein Vater. »Und was willst du mit ihr machen? Sie übersteht keine zwei Stunden, ohne dass diese höllischen Visionen sie heimsuchen.«
»Dagegen könnten wir etwas unternehmen. Wir Saar haben gelernt, widerspenstige Gedanken zu zähmen.« Orma tippte sich an die Stirn, dann noch einmal, als faszinierte ihn dieses Gefühl.
Weshalb war mir nie aufgefallen, wie sonderbar er eigentlich war?
»Du würdest sie nur in Musik unterrichten«, sagte mein Vater, und seine glockenhelle Stimme klang eine Oktave zu hoch. So deutlich, als ob seine Haut gläsern wäre, sah ich in seinem Gesicht, wie er mit sich kämpfte. Er hatte mich nicht nur um meiner selbst willen beschützt, sondern gleichzeitig auch immer sein eigenes gebrochenes Herz schützen wollen.
»Papa, bitte.« Ich streckte ihm meine geöffneten Hände entgegen, wie jemand, der vor einem Heiligen betet. »Ich habe doch sonst nichts.«
Mein Vater sank auf seinem Stuhl zusammen und blinzelte seine Tränen weg. »Aber so, dass ich dich nicht höre.«
Zwei Tage später wurde ein Spinett in unser Haus gebracht. Mein Vater hatte es in einen Abstellraum in der hintersten Ecke unseres Hauses, weit weg von seinem Arbeitszimmer, aufstellen lassen. Für einen Stuhl war kein Platz mehr, ich musste mich auf eine Truhe setzen. Orma hatte auch ein Buch mit Musikstücken mitgeschickt, die Fantasien darin stammten von einem Komponisten namens Viridius. Ich hatte zuvor noch nie Noten gelesen, aber sie waren mir sofort vertraut, so wie mir die Sprache der Drachen vertraut gewesen war. Ich harrte Stunde um Stunde in der Kammer aus, bis es draußen bereits dunkelte, und las die Stücke wie ein Buch.
Ich wusste nichts von Spinetten, daher öffnete ich auf gut Glück einfach den Deckel. Auf seiner Innenseite war eine bäuerliche Idylle gemalt: Katzen vergnügten sich auf einem Hof, dahinter machten Bauern Heu. Eines der Kätzchen, das besonders rauflustig nach einem blauen Wollknäuel sprang, hatte ein seltsames glasklares Auge. Ich kniff die Augen zusammen, starrte im Halbdunkel auf das Kätzchen, dann tippte ich mit dem Finger darauf.
»Ah, da bist du ja«, krächzte eine tiefe Stimme. Sie kam, völlig unpassend, aus dem Schnäuzchen des frechen Kätzchens.
»Orma?« Wie konnte er mit mir sprechen? War das Drachenwerk?
»Wenn du bereit bist«, sagte er, »dann lass uns beginnen. Es gibt viel zu tun.«
Und so rettete er mir zum dritten Mal das Leben.
Vier
I n den nächsten fünf Jahren war Orma mein Lehrer und mein einziger Freund. Für jemanden, der es tunlichst vermied, sich als mein Onkel zu bezeichnen, nahm er seine verwandtschaftlichen Pflichten überaus ernst. Er unterrichtete mich nicht nur in Musik, sondern auch in allem, was ich seiner Meinung nach über Drachen wissen müsste: ihre Geschichte, ihre Philosophie, Physiologie und höhere Mathematik, was für sie fast wie eine Religion war. Und er beantwortete jede noch so dreiste Frage. Ja, unter gewissen Voraussetzungen können Drachen auch Farben riechen. Ja, es war entsetzlich, sich in einen Saarantras zu verwandeln, unmittelbar nachdem man einen Auerochsen verspeist hatte. Nein, er wusste auch nicht genau, woher meine Visionen kamen, aber womöglich habe er eine Idee, wie man mir helfen könne.
Für Drachen war das Menschsein
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