Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
wusste, was sie fühlte; ich war sie gewesen und hatte es am eigenen Leibe verspürt.
Dieser Einblick in ihr Gemüt hätte eigentlich mein Mitgefühl wecken müssen. Ich hätte doch spüren müssen, dass ich mit ihr verbunden war, hätte mich darüber freuen müssen, dass ich sie wiedergefunden hatte, hätte eine angenehme Erleichterung, einen inneren Frieden empfinden müssen. Etwas Angenehmes wenigstens. Es spielte doch keine Rolle, welcher Art das Angenehme war.
Sie war doch, beim Himmel, meine eigene Mutter!
Aber ich fühlte nichts dergleichen. Ich betrachtete das Gefühl wie aus weiter Ferne, sah, wie schlecht die Sache ausgehen würde, und unterdrückte es, bis ich gar nichts mehr empfand.
Ich rappelte mich auf und ging schwankend in das andere Zimmer. Mein kleines Chronometer zeigte zwei Stunden nach Mitternacht an, aber es war mir egal, ob ich Orma aufweckte. Er hatte die Störung mehr als verdient. Ich spielte unseren Erkennungsakkord, dann noch einmal, diesmal eine Spur gereizter.
Ormas Stimme krächzte unerwartet laut aus dem Spinett: »Ich habe mich schon gewundert, dass du nichts von dir hören lässt. Weshalb bist du nicht in die Stadt gekommen?«
Ich konnte mich nur mit Mühe beherrschen. »Sorgen hast du dir aber keine gemacht, nehme ich an.«
»Worüber genau sollte ich mir Sorgen gemacht haben?«
»Einer meiner Grotesken hat sich merkwürdig benommen. Ich wollte zu später Stunde quer durch die Stadt zu dir gehen, habe es aber nicht geschafft. Dass mir womöglich etwas zugestoßen sein könnte, ist dir nicht in den Sinn gekommen?«
Eine Pause trat ein, während er überlegte.
»Nein. Ich nehme an, du wirst mir jetzt erzählen, dass dir etwas zugestoßen ist.«
Ich wischte mir über die Augen. Ich hatte keine Kraft mehr, mit ihm zu streiten. Ich berichtete ihm alles, was vorgefallen war – das seltsame Betragen des Fledermausjungen, die Visionen, die Erinnerungen meiner Mutter. Nachdem ich zu Ende geredet hatte, schwieg er so lange, dass ich auf das Auge des Kätzchens klopfte.
»Ich bin da«, sagte er. »Was für ein Glück, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist, als du die Vision hattest.«
»Hast du irgendeine Vermutung, warum sich der Fledermausjunge so benommen hat?«, fragte ich.
»Aus irgendeinem Grund sieht er dich«, antwortete Orma. »Wieso ausgerechnet jetzt, weiß ich auch nicht. Jannoula hat dich von allem Anfang an gesehen.«
»Und sie ist so stark und scharfsinnig geworden, dass es schwierig war, sie wieder loszuwerden«, sagte ich. »Vielleicht ist es klüger, Flederchen wegzusperren, solange ich es noch kann.«
»Nein, nein«, widersprach Orma. »Wenn er tut, worum du ihn bittest, dann ist er eher eine Hilfe als eine Bedrohung. Es gibt so viele Fragen, auf die wir noch keine Antwort haben. Weshalb siehst du ihn? Wie kann er dich sehen? Ergreif die Chance, die darin liegen könnte. Du kannst Visionen ja auch heraufbeschwören, also geh und sieh nach ihm.«
Ich fuhr mit den Fingern über die Tasten des Spinetts. Was seinen Vorschlag anging, so war das ein bisschen viel verlangt; aber sich gar nicht mehr um Flederchen zu kümmern, war auch nicht in Ordnung.
»Vielleicht findet er im Laufe der Zeit eine Möglichkeit, mit dir zu sprechen«, sagte Orma.
»Oder vielleicht reise ich eines Tages nach Porphyrien, suche ihn und schüttle ihm dann die Hand«, sagte ich und lächelte ein bisschen. »Allerdings erst nach dem Besuch von Ardmagar Comonot. Bis dahin habe ich zu viel zu tun. Viridius ist ein entsetzlich strenger Zuchtmeister.«
»Das ist eine hervorragende Idee«, sagte Orma, der anscheinend glaubte, ich meinte es ernst. »Ich könnte dich ja begleiten. Die Bibliagathon von Porphyrien soll äußerst sehenswert sein.«
Ich schmunzelte angesichts seiner glühenden Leidenschaft für Bibliotheken, und als ich ins Bett kroch, lächelte ich noch immer. Ich konnte nicht einschlafen, im Geiste reiste ich schon mit meinem Onkel, traf den Fledermausjungen in der wirklichen Welt und bekam schließlich Antworten auf meine Fragen.
Sieben
D a ich so spät zu Bett gegangen war und für mein morgendliches Programm so früh aufstehen musste, bekam ich nicht genügend Schlaf. Stoisch erledigte ich meine Pflichten, aber Viridius entging nicht, dass es mir schwerfiel. »Ich werde deine Federn anspitzen«, sagte er und nahm mir, ohne lange zu fragen, den Kiel aus der Hand. »Du legst dich auf mein Sofa und ruhst dich ein halbes Stündchen aus.«
»Meister, ich versichere Euch,
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