Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
gewesen, dass ich misstrauisch wurde. Ich schaute in die Blechschatulle: die Erinnerungen waren fein säuberlich geordnet wie kleine Karteikärtchen. Oben hatte jede ein Stichwort, das in merkwürdig krakeligen Buchstaben notiert war – vermutlich die Handschrift meiner Mutter. Ich blätterte sie durch. Sie schienen chronologisch angeordnet zu sein. Ich zog eine heraus. Quer über dem Pergamentstück stand Orma nimmt Glückwünsche zu seinem 59. Schlüpftag entgegen , aber der Rest der Seite war frei. Die Überschrift machte mich natürlich neugierig, trotzdem steckte ich das Pergament wieder an seinen Platz zurück.
Einige der Zettel weiter hinten waren farbig. Ich zog einen rosafarbenen heraus und bemerkte zu meinem großen Erstaunen, dass dieser vollgeschrieben war. Ein Lied meiner Mutter stand darauf, in ihrer krakeligen Notenschrift. Ich kannte das Lied – wie ich alle ihre Lieder kannte –, aber es war bitter und anrührend zugleich, es von ihrer Hand niedergeschrieben zu sehen.
Es hieß: Treu und Glauben müssen erst errungen sein . Ich konnte nicht widerstehen. Bestimmt war das ihre Erinnerung daran, wie sie dieses Lied geschrieben hatte. Die Flocken hatten sich auf meiner Zunge aufgelöst, vielleicht klappte es auch mit Pergamentschnipseln.
Der Pergamentschnipsel sprühte Funken und knisterte wie eine Wolldecke in einer Winternacht. Und er schmeckte wundersamerweise nach Erdbeeren.
Meine Hände fliegen über die Seiten, in jeder halte ich einen feinen Pinsel; mit dem einen male ich die Notenköpfe, mit dem anderen zeichne ich Striche und Bögen, die sich umeinander winden und verschränken – fast so, als würde ich klöppeln und nicht Musik niederschreiben. Es sieht kunstvoll aus und ich bin sehr zufrieden damit. Vor dem offenen Fenster singt eine Lerche, und meine linke Hand – sie ist immer die vorwitzigere der beiden – nimmt sich einen Augenblick Zeit, um den Vogelgesang aufzuschreiben, der mit dem Thema harmoniert (wenn auch mit leicht verändertem Rhythmus). Was für ein wunderbarer Zufall. So vieles ist wunderbar, man muss nur aufmerksam dafür sein.
Ich kenne seinen Takt, kenne ihn wie meinen eigenen Herzschlag – vielleicht sogar besser, denn mein Puls ist in der jüngsten Zeit unberechenbar. Gerade jetzt schlägt er im Siebteltakt und nicht in seinem Dreierschlag. Das ist zu schnell. Dr. Caramus zeigte sich ungerührt, als ich ihm davon erzählte. Er glaubte mir nicht, als ich ihm sagte, dass dies äußerst ungewöhnlich sei.
Noch bevor es an der Tür klopft, bin ich schon aufgesprungen, ich weiß selbst nicht wie. Meine Hände sind mit Tinte beschmiert, und meine Stimme ist brüchig, als ich »Herein!« rufe.
Claude tritt ein. Seine Miene ist düster, wie immer, wenn er sich bemüht, keine Hoffnung zuzulassen. Ich nehme ein Tuch, um mir die Hände abzuwischen und meine Verwirrung zu verbergen. Ist das nun amüsant oder erschreckend? Ich wusste nicht, dass beides so nahe beieinanderliegen kann.
»Ich habe gehört, dass du mich sprechen willst«, murmelt er.
»Ja, tut mir leid, ich … ich hätte deine Briefe beantworten sollen. Ich musste sehr viel nachdenken.«
»Darüber, ob du mir hilfst, die Lieder zu schreiben?«, fragt er und klingt dabei fast ein wenig kindisch. Nörglerisch. Was einerseits ärgerlich ist, andererseits aber auch liebenswert. Er ist so einfach zu durchschauen und gleichzeitig so unendlich kompliziert. Und so strahlend schön.
Ich gebe ihm das Blatt und sehe, wie sich seine Gesichtszüge glätten und seine Anspannung sich in Staunen verwandelt. Unwillkürlich fasse ich an meine Brust, als könnten meine Hände mein Herz greifen, damit es langsamer schlägt. Er gibt mir das Lied zurück. Seine Stimme zittert, als er sagt: »Würdest du es mir vorsingen?«
Ich würde es ihm lieber auf der Flöte vorspielen, aber er möchte die Melodie und den Text zusammen hören:
Treu und Glauben müssen erst errungen sein,
Der Himmel selbst kennt diese Pein,
Bemessne Zeit darf achtlos nicht verrinnen,
In Vergangenem lässt Trost sich finden,
Hoffend, das Gestern mög im Morgen münden,
Die graue Trauer endlich schwinden.
Hoffnung, Licht und Religion, ist mir die Lieb allein,
In Liebe nur kann ich geborgen sein.
Sein Blick ist so leidenschaftlich, während ich die letzten Worte singe, dass meine Stimme zu versagen droht. Tatsächlich habe ich kaum noch genug Kraft für das »geborgen sein«. Ich hole tief Luft, aber der Atem stockt wie nach einem Weinkrampf.
Dieses
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