Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
Gefühl ist so kompliziert und überwältigend, dass es mich beinahe um den Verstand bringt. Es ist, als sähe man nach einem langen erfolglosen Tag auf der Jagd plötzlich eine große Beute vor sich – da ist die Vorfreude auf die Hatz, vermischt mit der Angst, dass alles vergeblich sein könnte, und doch wird man es in jedem Fall versuchen, denn das schiere Überleben hängt davon ab. Ich entsinne mich auch an das erste Mal, als ich mich von einer Klippe herab Richtung Meer stürzte, ich hielt die Flügel bis zum letzten Augenblick angelegt, entfaltete sie erst im allerletzten Moment und schwebte dann über die sich auftürmenden Wellen, gerade so hoch, dass mich ihre Schaumfinger nicht erreichten, lachte über die Gefahr und war zugleich erschrocken, wie nahe ich ihr gekommen war.
»Ich freue mich so, dass du hier bist«, sage ich. »Ich weiß jetzt, dass ich dich sehr traurig gemacht habe. Aber das war nie meine Absicht.«
Claude reibt sich den Nacken und rümpft die Nase, er wird mir gleich sagen, dass er niemals traurig war. Ich glaube, so etwas nennt man Courage, und man findet sie nicht nur bei Anwälten, nicht einmal nur bei Männern, aber ich vermute, wenn jemand beides ist, besitzt er sie unausweichlich. Im Grunde könnte es mir gleichgültig sein, aber heute ist es wichtig, dass er aufrichtig ist. Heute ist ein Anfang und auch ein Ende. Ich nehme seine Hand.
Das Kribbeln, das wir verspüren – denn ich sehe, er spürt es auch – ist wie ein Blitzschlag. Aber das ist ein Gefühl, das ich ihm niemals werde vermitteln können, eine Erfahrung, die ich niemals werde mit ihm teilen können. Eine von so vielen, aber ich hoffe, nein, ich setze alles und verwette mein ganzes Leben darauf, dass es letztendlich keine Rolle spielen wird, dass dieses Etwas zwischen uns, dieses Geheimnis ausreichen wird.
»Linn«, sagt er rau, und sein Unterkiefer zittert ein klein wenig. Auch er hat Angst. Aber was ist so Furcht einflößend daran? Welchem Zweck dient dieses Gefühl? »Linn«, beginnt er erneut. »Damals, als ich glaubte, dass du mich niemals wieder sehen wolltest, damals hatte ich das Gefühl, als wäre ich von einem hohen Felsen ins Nichts gestürzt und der Abgrund käme immer näher.«
Diese Bildsprache ist so ungewohnt, aber oft bleibt einem nur dieser Ausweg, wenn man Gefühle angemessen beschreiben will. Ich kann das nicht gut, aber seine Vergleiche beeindrucken mich immer, weil sie so genau sind. Ich würde am liebsten Heureka schreien, aber dann sage ich doch nur: »So ist es mir auch ergangen! Ganz genau so!«
Ich möchte ihm gern übers Gesicht streichen und er lässt es zu. Wie eine Katze schmiegt er sich an meine Hand.
Und in diesem Moment weiß ich auch, dass ich ihn küssen werde, und schon allein der Gedanke daran erfüllt mich mit … es ist, als hätte ich soeben Skivvers Näherungsgleichung gelöst oder noch besser: als sei mir soeben die Weltformel eingefallen und ich hätte die Zusammenhänge zwischen Mond und Sternen, zwischen Gebirgen und Geschichte, zwischen Kunst und Tod und unseren Sehnsüchten erkannt, als wäre mein Bewusstsein groß genug, dass es das ganze Universum umfassen kann vom Anfang bis zum Ende aller Zeiten.
Bei dieser Vorstellung muss ich lächeln, denn ich verstehe nicht einmal die Gegenwart, und außer diesem Kuss gibt es für mich nichts mehr auf der Welt.
Hier endete die Erinnerung, und sie entließ mich nicht in den Garten, sondern in das wirkliche Leben: auf den kalten, harten Fußboden, in dem zerknitterten Unterkleid, mit einem bitteren Geschmack im Mund und mutterseelenallein. Ich war benommen, ich wusste nicht, wo ich war, und mir war übel. Das war mein Vater gewesen, den sie geküsst hatte.
Ich stützte den Kopf gegen das Bettgestell, atmete langsam und versuchte ein Gefühl loszuwerden, so entsetzlich, dass ich mich nicht überwinden konnte, es an mich heranzulassen.
Fünf Jahre lang hatte ich jeden Gedanken an sie verdrängt. An die Stelle der ›Amaline Ducanahan‹ aus meiner Kindheit war Leere getreten, eine Kluft, ein Loch, durch das der Wind pfiff. Ich konnte diese Leere nicht einfach mit »Linn« füllen. Dieser Name bedeutete mir nichts, er war nur ein Platzhalter, so etwas wie eine Null.
Mit dieser einen Erinnerung hatte sich das, was ich von ihr wusste, mit einem Mal vertausendfacht. Ich wusste jetzt, wie sich eine Feder in ihrer Hand anfühlte, wie schnell ihr Herz klopfte, wenn sie meinen Vater sah, wie tief schöne Musik sie bewegte. Ich
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