Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
so über mich geärgert hatte. Wie einfach war das Leben doch, wenn ein schmaler Streifen aus Schuppen der einzige körperliche Makel war. Und ich stand da, vor aller Augen, brachte mich selbst in Gefahr, wo er doch kaum etwas zu verbergen hatte.
Ich frage und flehe und hoffe wie nie,
Vor dir, Liebste, falle ich auf die Knie,
Lass wahr werden meine Fantasie,
Wenn die Zeit herangereift ist,
Und du, meine Süße, bei mir bist,
Schenk Wonne mir – mit Pfirsich und Wein.
Ich beendete das Lied mit einem schwungvollen Schlussakzent. Lars war wieder züchtig bekleidet, auch wenn die Fischerkluft etwas zu klein war. Die Leute riefen nach einer Zugabe, aber ich fühlte mich ausgelaugt, die Kraft, die mir die Angst verliehen hatte, war aufgebraucht. Ich schaffte es gerade noch, mir zu überlegen, wie ich von dem hohen Poller hinuntergelangen konnte. Als ich nach unten sah, wusste ich nicht mehr, wie ich überhaupt heraufgekommen war. Anscheinend verleiht die Verzweiflung ungeahnte Fähigkeiten.
Plötzlich streckte sich mir eine Hand entgegen. Ich blickte nach unten und sah die schwarzen Haare und die lustigen Augen von Prinz Lucian Kiggs.
Er schmunzelte über meine Verrücktheiten, und ich konnte nicht anders, ich musste ebenfalls lachen.
Ich sprang hinunter, wenn auch nicht sehr elegant.
»Ich war gerade mit der Abendwache auf dem Weg zum Palast«, sagte der Prinz. »Dachte, wir sollten mal anhalten und nach dem Grund des Treibens sehen – und herausfinden, wer da singt. Das war sehr hübsch.«
Viele Leute hatten sich aus dem Staub gemacht, als die kleine Wachmannschaft aufmarschiert war. Jene, die geblieben waren, erzählten nun mit großem Vergnügen, was vorgefallen war, so als handle es sich um eine Geschichte aus Belondweg , unserem Nationalepos. Der Titelheld der Geschichte, der Grausame Graf von Apsig, nimmt da auf dem Brückengeländer einen tumben Toren gefangen! Eine hübsche Jungfrau will ihn retten, die heldenmütigen Städter fischen ihn aus dem Wasser und dann – tatatata – Triumphmarsch!
Prinz Lucian schien die Geschichte zu gefallen. Ich war nur froh, dass ich nicht erklären musste, was ich tatsächlich gemacht hatte, denn allen anderen war es völlig normal vorgekommen. Lars stand ganz ruhig da und beachtete den Wachmann nicht, der ihn ausfragen wollte.
Der enttäuschte Mann erstattete dem Prinzen Bericht: »Er hat kein Interesse daran, diesen Vorfall aufzuklären, Hauptmann Kiggs.«
»Schaff mir Graf Josef herbei. Ich werde mit ihm darüber sprechen. Er kann nicht einfach Leute in den Fluss werfen und dann wegreiten«, befahl Prinz Lucian und schickte den Wachmann weg.
Die Sonne ging gerade unter und der Wind hatte aufgefrischt. Der Prinz betrachtete meinen vor Kälte zitternden Freund. Lars war älter und einen Kopf größer, aber Prinz Lucian stand da wie der Hauptmann der Königlichen Garde und Lars wie ein kleiner Junge, der am liebsten im Erdboden versunken wäre. Fast rechnete ich damit, dass er es auch tatsächlich tat.
Der Prinz bemühte sich, freundlich mit ihm zu sprechen: »Du bist also ein Schüler von Viridius.«
»Ja«, murmelte Lars wie jemand, der bereits im Erdboden versunken ist.
»Hast du den Grafen in irgendeiner Weise provoziert?«
Lars zuckte die Schultern und sagte: »Ik bin auf seinem Landbesitz aufgewaksen.«
»Das kann man wohl kaum eine Provokation nennen, oder?«, fragte Prinz Lucian. »Bist du sein Leibeigener?«
Lars zögerte. »Ik bin schon länger als ein Jahr und Tag nikt mehr dort gewesen. Nak Rekt und Gesetz bin ich frei.«
Eine Frage drängte sich mir auf. Wenn Lars auf den Ländereien des Grafen aufgewachsen war, könnte Josef dann gewusst haben, dass es sich bei Lars um einen Halbdrachen handelt? Möglich war es, und wenn man Josefs Einstellung Drachen gegenüber in Betracht zog, dann erklärte sich auch, wieso er sich so feindselig verhalten hatte. Aber das konnte ich Lars ja im Beisein von Lucian Kiggs nicht fragen.
Der Prinz verzog angewidert das Gesicht. »Mag sein, dass man in Samsam seine früheren Leibeigenen schikanieren darf, hier bei uns ist das nicht Sitte. Ich werde ihn mir vorknöpfen.«
»Mir wäre lieber, Ihr tätet das nikt«, sagte Lars. Prinz Lucian wollte widersprechen, aber Lars fragte rasch: »Kann ik jetzt gehen?«
Der Prinz erteilte ihm mit einem Wink die Erlaubnis, sich zu entfernen. Lars gab mir meinen Stift zurück, der etwas feucht geworden war, und sah mich einen Augenblick lang an, ehe er sich zum Gehen wandte.
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