Serafinas später Sieg
ihre Wunden lecken und die Gefühle entwirren, die sie bei seiner Rückkehr aus Florenz zu überwältigen gedroht hatten.
Zu Anfang dachte sie nur an Angelo – an den Angelo aus ihrer Kindheit, der ihr einen Kranz aus Rosmarinzweigen und Gräsern wand, bevor er sie in den Tod schickte; an den Angelo, der ihr bei ihrem letzten Aufenthalt in Marseille herablassend erklärte, er brauche ihre Hilfe nicht, da er reich heiraten werde. Und dann dachte sie an den Angelo, der in Florenz Jehan de Coniques erdrosselt hatte.
Das Bild des Notars mit der roten Strieme um den Hals hatte sich zu den anderen Alpträumen gesellt, die Serafina verfolgten. Wenn sie nachts zitternd und mit einem stummen Schrei auf den Lippen erwachte, fühlte sie sich unsäglich einsam. Dann umschlang sie schluchzend ihr Kopfkissen und flüsterte Thomas' Namen. Manchmal stand sie auf und ging ins Kinderzimmer, kniete sich neben die Wiege und streichelte die runden, rosigen Wangen ihres Sohnes.
Sie überließ die alltäglichen Aufgaben, die das Geschäft mit sich brachte, in steigendem Maße Amadeo und Michele – Amadeo hatte in ihrer Abwesenheit verantwortungsbewußt ihre Interessen vertreten, und Michele war fleißig und ehrlich – und widmete sich hauptsächlich Francesco und dem jungen Mädchen, das jetzt bei ihr wohnte. Sie hatte Maria ins Haus genommen, um ihre Schuld bei der Kurtisane Constanza zu begleichen – und aus Rache an Galeazzo Merli. Thomas brachte ihr das Mädchen, bevor er nach Aleppo aufbrach, und binnen kürzester Zeit verwandelte sich Serafinas penibel ordentliches Haus in ein Chaos. Bücher und Federkiele verschwanden und fanden sich Wochen später an den unwahrscheinlichsten Plätzen wieder, auf Stühlen und Tischen lagen Sachen herum, und in den Fluren fiel man allenthalben über dort Vergessenes. Einmal stolperte Serafina über ein Kätzchen, das zusammengerollt auf der obersten Treppenstufe schlief, und ein anderes Mal entdeckte sie auf Jacopos Lieblingssessel ein Vogelnest samt Brut.
Doch zu ihrer eigenen Überraschung genoß Serafina die Gesellschaft des jungen Mädchens. Marias Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit vertrieb die Düsternis aus dem alten Haus. Sie kümmerte sich hingebungsvoll um Francesco und war eine erfreuliche Gesprächspartnerin für Serafina, die zu ihrem Erstaunen Vergnügen an Themen fand, die nichts mit Geschäften zu tun hatten.
Eines Nachmittags, als sie im Salon saßen, überfiel Serafina ein befremdendes Gefühl. Blasses Sonnenlicht strömte durch die Fenster herein. Auf dem zugefrorenen Arno bauten die Leute Burgen aus Schnee. Es war Karnevalszeit. Francesco, der bereits krabbeln konnte, versuchte sich mit Hilfe eines Stuhls aufzurichten. Unten im Kontor schlossen Amadeo und Michele die Buchhaltung für diesen Tag ab, in den Häusern zahlreicher Weber von Pisa wurde Seide für die Firma Capriani gewoben – und irgendwo, Hunderte von Meilen entfernt, stand Thomas Marlowe auf dem Deck der Kingfisher , unterwegs, um Rohseide und kostbare Stoffe zu kaufen und Wollstoffe und Weißwäsche zu verkaufen, die sie aus Marseille und Avignon mitgebracht hatten, und Kurzwaren aus Neapel. Er würde voraussichtlich erst im Hochsommer zurückkehren, überlegte sie, und plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie ihn vermißte, daß sie wünschte, er wäre hier und würde miterleben, wie sein Sohn, der ihm so ähnlich sah, mit dem Daumen im Mund andächtig einer von Marias Schilderungen aus ihrer Zeit im Kloster lauschte. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Was sollte diese Gefühlsduselei? Thomas Marlowe arbeitete für sie – das war alles.
Verdutzt beobachtete Maria, wie Serafina aufstand, Francesco hochhob und seinen dunklen Lockenkopf mit Küssen überschüttete.
Nach zuviel kretischem Wein und begeistertem Pläneschmieden für die neue Ostindien-Gesellschaft waren sowohl John Keanes Magen als auch sein Kopf in Aufruhr. Hoch erregt ging er durch die menschenleeren Straßen von Aleppo zum »Inn of Customs« zurück. Er betrat sein Zimmer, stellte die Kerze, die er vom Flur mit hereingenommen hatte, auf den Tisch, lockerte die Verschnürung seines Wamses und wollte sich gerade hinsetzen, als er ein leises Geräusch hörte. Er griff nach seinem Messer, doch eine Hand legte sich von hinten auf seine und hinderte ihn daran, die Waffe aus der Scheide zu ziehen. Und dann sagte eine Stimme: »Ich bin kein Dieb und auch kein Geist, der durch die Wand gekommen ist – Sie brauchen Ihr Messer nicht, John.«
John Keane
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