Serafinas später Sieg
nach Marseille zurückkehren würdet. Du solltest darüber nachdenken, wer einen Gewinn aus eurem Tod ziehen könnte, Kleines.«
Der Schleier war von Serafinas Kopf geglitten. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Kara Ali an. Er wußte, daß sie im Geiste jedes Mitglied des Hauses Guardi auf seine mögliche Schuld hin in Betracht zog. Er liebte ihren scharfen Verstand. Würde er wohl in den Hintergrund treten, wenn sie zur Frau erblühte?
»Nein«, sagte sie schließlich entschieden. »Nein. Es gehört alles mir. Alles.« Sie stand auf und zog den Schleier wieder an seinen Platz. »Ich muß nach Marseille zurück.« Kara Ali begriff, daß er nicht erwartet hatte, daß die Entscheidung ihr schwerfallen würde. Serafina war für eine Weile seiner Obhut unterstellt worden, und dafür dankte er Allah aus tiefster Seele, doch jetzt war diese Zeit vorüber. »Wir müssen sehr vorsichtig vorgehen«, sagte er. »Die Sterne werden uns sagen, was wir tun sollen.«
In der Woche darauf brachten die Sterne Kara Ali einen Besucher. An dem Schleier, der nur die Augen freiließ, und an den blauen Lidumrandungen erkannte er sofort, daß es sich um einen Tuareg-Krieger handelte.
Bei einem Glas Milch und einer Handvoll Datteln, die sie in der Kühle des Innenhofs zu sich nahmen, erfuhr der Arzt, aus welchem Grund sein Gast ihn aufgesucht hatte: Ein Junge war vom Pferd gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Er hatte diese Leute schon früher behandelt, kannte die große Karawane, die jedes Jahr Goldstaub, Salz und Sklaven aus dem Herzen Afrikas nach Oran und Algier brachte.
Begleitet von Hasan und Achmed und dem hochgewachsenen Targi* [* Singular von »Tuareg«] brach Kara Ali am späten Nachmittag auf. Schon den ganzen Tag schmerzte ihn jeder Knochen im Leib, und das immer wiederkehrende Herzflattern erinnerte ihn an seine unerledigten Verpflichtungen. Er lächelte, als er darüber nachdachte, in welchem Himmel er wohl erwartet würde. Hätte er die Wahl, würde er den Himmel des Islam vorziehen, denn der versprach hundert Jahre leibliche Genüsse.
Die Karawanserei bestand aus einem Innenhof, der von Ställen umfriedet war, über denen Wohnräume lagen. Ziegen, Maultiere, Schafe und Kamele trugen ihre Geräusche zu dem herrschenden Stimmengewirr bei. Die Gerüche von Kuskus, Kameldungfeuern und schwitzenden Menschen und Tieren waren betäubend. Im Dämmerlicht eines der Zimmer richtete der Arzt das Bein des Jungen ein und ließ einen Schlaftrunk für das Kind zurück. Er war erschöpft. Als er die letzte Bandage anlegte, begannen seine Hände zu zittern. Unten im Innenhof wurde gefeiert. Kara Ali befahl Achmed, seine Utensilien zusammenzupacken und verließ den Raum.
Während er aß – Hammel, Taube mit Mandeln, Grießbrei und Reis –, verdichtete sich die Dunkelheit über der Wüste und den Bergen. Der Schein der Feuer und das Licht der leicht hin und her schwingenden Messinglampen ließ den Gold- und Silberschmuck der Tänzerinnen aufblitzen, flackerte auf ihren langen dunklen Haaren und glitzerte in ihren schwarzen Augen. Der Klang von Trommel, Tamburin und Flöte und der Anblick der biegsamen Körper weckten längst vergessene Regungen in dem alten Mann –und auch Wehmut: Es ist zu spät, dachte er, viel zu spät. Die Tuareg-Frauen waren unverschleiert, und die tanzenden Lichter verliehen ihren Gesichtern einen geheimnisvollen Zauber. Die Tänzerinnen waren hochgewachsen und voller Grazie, hellhäutig und samtäugig. Die Stammesgesetze gestatteten den Frauen beliebig viele Liebhaber. Kara Alis Blick wanderte zu einer Schönheit, die ihm gegenüber am Feuer saß. Ein Mann stand neben ihr. Sie berührten sich nicht, doch sie machten den Eindruck zusammenzugehören. Nein, korrigierte sich der Arzt, nachdem er die beiden aufmerksam gemustert hatte, der Mann gehörte der Frau! Er war kein Targi, denn seine schwarzen Locken waren nicht mit einem Schleier bedeckt und die Augen nicht mit blauer Farbe umrandet. Die Frau hatte klare, klassische Züge, deren Schönheit sich zweifellos erst entwickelt hatte, als sie erwachsen wurde. So ähnlich wird Serafina eines Tages aussehen, dachte Kara Ali und machte sich daran, eine Handvoll Datteln zu entkernen. Heute schenkten die Männer ihr noch keinen zweiten Blick, doch in ein paar Jahren – in ein paar Jahren würde sie wirklich und wahrhaftig Badr-al-Dujja sein. »Der nächtliche Vollmond«. Wenn sie seine leibliche Tochter wäre, würde er ihr schon morgen einen guten Mann
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