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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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sich darüber zu wundern, denn in diesem Moment kam eine Gruppe Männer durch die enge Rathausgasse und versperrte ihm den Weg. Es waren Patrizier. Sie waren zu dritt und hatten einen Vierten gefesselt, der mit verbundenen Augen zwischen ihnen einherstolperte. Das Hemd hatten sie ihm halb vom Leib gerissen, so dass seine unbehaarte Brust entblößt war. Mehrere dünne blutigrote Kratzer liefen quer über seine helle Haut. Auch aus seiner Lippe sickerte Blut und vermischte sich mit seinem Speichel zu einem langen hellroten Faden, der ihm vom Kinn baumelte. Seine Kiefer bewegten sich mahlend aufeinander, so, als kaue er auf etwas herum. In dem Moment, in dem seine drei Peiniger Richard entdeckten und dabei kurz von ihrem Opfer abließen, sank es auf die Knie. Der Mann beugte den Oberkörper vor und stöhnte, und dann spie er den Inhalt seines Mundes direkt vor Richards Füße.
    Im ersten Moment weigerte sich Richards Geist schlichtweg, die matschige Masse zu erkennen. Doch dann traf es ihn mit der Wucht eines Hiebes. Es war der abgebissene Kopf eines kleinen Vogels. Jetzt erkannte Richard auch, dass es nicht sein eigenes Blut war, das dem Mann von der Lippe tropfte.
    Plötzlich verdüsterte sich der Himmel noch mehr, und die Luft wurde gelb wie Schwefel.
    Die drei Männer warfen Richard einen finsteren Blick zu, in dem so viel Zorn flammte, dass er unwillkürlich nach dem Heft seines Dolches tastete.
    Einer der drei brachte sein Gesicht ganz dicht an Richards Nase. »Aus dem Weg, Kerl!« Aus seiner Kehle stank es nach fauligem Fleisch. Richard wandte den Kopf zur Seite. Und dann machte er Platz.
    Die drei packten ihr Opfer an den Schultern, zerrten es zurück auf die Füße. Dann drängten sie sich an Richard vorbei und setzten ihren Weg fort. Kurz bevor sie um ein Ecke verschwanden, warf der Mann in ihrer Mitte den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf. Langgezogen und klagend.
    Richard schluckte, dann rannte er wieder los. Zwischen den Häusern hindurch auf den Großen Platz vor der Frauenkirche. Wie an jedem anderen Tag auch fand hier Markt statt, aber es waren heute weitaus weniger Menschen unterwegs als sonst.
    »Nicht!« Eine schrille Frauenstimme ließ ihn innehalten. Er wandte sich um. Eine junge Frau stand mit dem Rücken an eine Hauswand gepresst da. Mit weit aufgerissenen Augen wies sie auf den Platz hinaus. »Sie sind alle wahnsinnig!«
    Für einen Augenblick lang erkannte Richard nicht, was sie meinte, denn in den beiden Gassen, die von den hölzernen Marktständen gebildet wurden und die er von seinem Standpunkt aus überschauen konnte, schien nichts Ungewöhnliches vor sich zu gehen. Doch dann, als habe jemand einen Vorhang vor einer Theaterbühne fortgezogen, sah er, was sich vor seinen Augen abspielte.
    Die Menschen, die er im ersten Moment für die üblichen Marktbesucher gehalten hatte, waren alles andere als das. Kaum jemand bewegte sich, und wenn, dann tat er es mit langsamen, schlurfenden Schritten. Ein Mann hatte einen leeren Marktstand umgeworfen und war darauf geklettert, um von dort aus Beschimpfungen auf die Menschen zu seinen Füßen herabzuschleudern. Eine Frau, offensichtlich sein Eheweib, hockte mit verdrecktem Rock und halb geöffnetem Mieder zu seinen Füßen, reckte ihm die Arme entgegen und flehte in einem fort: »Ansgar! Komm zu mir! Ansgar, du sollst mich geigen!«
    Ein Marktweib hockte hinter seiner leeren Kiepe. Es hatte sämtliche Eier auf den Fußboden gekippt und schlug eines nach dem anderen mit der Faust entzwei. Eiweiß hing in langen Fäden von denFingern der Frau herab, besudelte ihr Kleid und verfing sich in ihren wirren Haaren, wenn sie sich die losen Strähnen aus dem Gesicht zu schieben versuchte.
    Ein kleiner Junge, er mochte kaum älter als fünf Jahre sein, stand mit zitternden Gliedern an einer Ecke. Seine riesigen Augen gaben ihm ein eulenhaftes Aussehen, und die Lippen, die sich in einem fort stumm bewegten, zogen sich immer wieder zurück und entblößten dunkelrotes Zahnfleisch.
    »Da!« Die junge Frau wies mit zitternder Hand in Richtung des Schönen Brunnens. Ein bewaffneter Patrizier kam aus Richtung der Sebalduskirche gerannt, und dann blieb er mitten im Lauf wie angenagelt stehen. Er legte den Kopf schief und schien zu lauschen. Und dann, ganz langsam, zog er das Schwert aus seiner Scheide.
    Richard sah es kommen.
    »Nein!« Er stürzte vorwärts, auf den Mann zu, der sich, von seinem Schrei abgelenkt, schwankend zu ihm umdrehte. Das Schwert hatte er

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