Seraphim
tief Atem, wie er konnte. Es schien, als befreie das Gewitter nicht nur die Luft vonihrer brütenden Hitze, sondern auch die Gassen der Stadt von dem Wahn, der über sie gekommen war. Von seinem erhöhten Standpunkt aus sah Richard, wie die Frau mit der Kiepe es endlich aufgab, ihre Eier zu zerschlagen, sich aufrappelte und mit hängendem Kopf durch den strömenden Regen davontappte. Der Prediger auf dem umgestürzten Marktkarren bemerkte irgendwann, dass er kein Publikum mehr hatte, besann sich und kletterte kopfschüttelnd zu Boden. Seine Frau hakte sich bei ihm ein, er zog seine Jacke aus und verdeckte damit ihre Blöße, und während sie davonschlichen, tuschelten sie leise und beschämt miteinander.
Pömer seufzte auf. »Es scheint vorbei zu sein.«
Richard machte Anstalten, den Raum zu verlassen, aber Pömer hielt ihn auf, indem er nach seinem Arm griff. »Ihr seid mir noch ein paar Erklärungen schuldig«, sagte er. »Was habt Ihr über diese ganze Sache in Erfahrung bringen können?« Er ließ Richard los, marschierte an seinem wuchtigen Bett vorbei zu einem kleinen Pult, auf dem einige Bogen Papier unordentlich übereinander geschoben herumlagen. Wie beiläufig nahm er das oberste Blatt und warf einen Blick darauf.
Alles in Richard drängte ihn, nach Hause, zu Katharina zu kommen, um mit ihr über die Zusammenhänge zwischen den drei Toten zu sprechen. Um sie zu beschützen. »Was wollt Ihr wissen?«, fragte er.
Pömer warf das Blatt zurück auf den Stapel, und Richard konnte einen kurzen Blick darauf erhaschen.
Es war eine Karte von Nürnberg.
»Dieser dritte Tote«, sagte Pömer.
»Woher wisst Ihr davon?«
»Ich bin erst kurz vor Euch nach Hause gekommen. Aber Thomas hat mir ausgerichtet, dass ein Ratsdiener hier war und nach mir geschickt hat, weil es noch einen Toten gegeben hat. Wer ist er?«
Richard erzählte es ihm.
Pömer riss erstaunt die Augen auf. »Der Kerl im Loch? Ja. Das passt alles ins Bild.« Er grinste breit. »Der Rat wird es noch bereuen, dass er mir das Amt des Stadtrichters nicht gegeben hat.«
»Ihr wollt derjenige sein, der den Mörder findet?«
Pömer strich über die feinen Linien auf seiner Karte. »Genauso ist es.«
»Und? Was denkt Ihr?«
»Überlegt selbst! Wer hat alles Schlüssel für das Lochgefängnis?«
»Die Schöffen.« Es war die erste Antwort, die Richard in den Sinn kam, denn Pömers Gesicht war jetzt zu einer grimmigen Maske verzerrt, und Richard vermutete, es könne nur ein Mitglied des Rates sein, den er im Verdacht hatte.
»Keinen Schöffen. Auf die naheliegendste Antwort seid Ihr noch nicht gekommen.«
Richard zuckte die Achseln. »Sagt Ihr es mir!«
»Es gibt in der Stadt einen Mann, der schon einmal einen ähnlichen Mord begangen hat. Vor dreißig Jahren.« Pömers Gesicht wurde freundlicher. »Seid nicht so verbohrt! Wer hat noch die Schlüssel zum Lochgefängnis?«
Und dann wusste Richard, worauf Pömer hinauswollte. Er stützte sich an einer Wand ab. »Sebald!«, murmelte er.
* * *
Plötzlich wusste Katharina, wo sie sich in Sicherheit bringen konnte.
Sie legte den Kopf in den Nacken. Wuchtig erhob sich die Fassade des Rathauses vor ihr. Sie hastete um seine Längsseite herum, wich einem Mann aus, der mit glasigem Blick an einer Ecke stand und wie ein kleines Kind vor sich hingreinte. Dann trat sie in den Schatten des Torbogens und zerrte mit solcher Kraft am Klingelzug von Sebalds Wohnung, dass der Ton der Glocke im Inneren sich überschlug. Die Augenblicke, die sie warten musste, bis eine der Mägde ihr öffnete, waren die längsten ihres Lebens.
Dann endlich schwang die Tür auf, Katharina stolperte in die Dämmerung von Sebalds Wohnung und warf sich von innen gegen die Tür. Die Magd starrte sie fragend an.
Katharina konnte keinen einzigen Ton herausbringen. Sie legte den Kopf gegen das Holz. Ihr war schwindelig.
»Katharina!« Plötzlich war Sebald bei ihr. »Du Arme! Komm, hier unten bist du in Sicherheit.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie in die Wohnstube.
Tiefe Dankbarkeit erfüllte Katharina.
Sebald bot ihr einen Stuhl an, auf den sie sich erleichtert fallenließ. Hier drinnen war das Rauschen des Regens nicht mehr zu hören, und die Schreie der Wahnsinnigen klangen gedämpft.
Wasser tropfte aus Katharinas Kleidung und den Haaren und bildete eine Pfütze zwischen ihren nackten Füßen. Ihr Blick fiel auf die Treppe, die zur Küche abwärts führte. Zur Küche und zum Lochgefängnis. Sie unterdrückte
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