Seraphim
den Impuls, aufzuspringen und sich dort unten in Sicherheit zu bringen.
In die Unterwelt zu fliehen, um der Hölle zu entkommen. Ein beinah irres Lachen entfuhr ihr.
»Wo sind deine Schuhe?«, fragte Sebald.
»Verloren.«
Er schnalzte mit der Zunge. »Warte.« Von irgendwo her holte er ein paar Frauenstiefel, die ganz offensichtlich seiner Mutter gehörten. »Zieh die an.«
Katharina tat es. Die Stiefel waren etwas zu klein, aber es würde gehen.
Währenddessen goss Sebald Wasser in einen Holzbecher. Er ließ Katharina nicht aus den Augen dabei. Im Licht der Talglampe sahen die Entstellungen in seinem Gesicht weniger schlimm aus als sonst. Er kam zu Katharina und hielt ihr den Becher hin. Sie nahm ihn, blickte nachdenklich hinein, trank jedoch nicht. Sie war nicht durstig.
»Nürnberg ist dem Wahn verfallen.« Er sagte es so ruhig, als berühre ihn das alles kaum.
Katharina nickte. »Ja. Das ist es.« Sie sah sich um. »Wo ist deine Mutter?«
»Unten im Loch.« Sebald nahm einen tiefen Zug direkt aus dem Krug und stellte ihn fort. »Ich habe sie in eine der Zellen gebracht.« Er blieb stehen, das Gesicht zur Wand gerichtet, und sah auf etwas, das sich Katharinas Blicken entzog. Einen Moment lang schienen seine Schultern voller Spannung zu sein.
»In eine der Zellen?« Katharina betrachtete Sebalds Fäuste, die sich öffneten und schlossen.
Endlich drehte er sich wieder um. Seine Bewegungen wirkten abgehackt, fahrig. Unter seinem rechten Auge zuckte ein Muskel.
Katharina lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Auf einmal fühlte siesich unbehaglich unter dem durchdringenden Blick seiner Augen. Aber als er sprach, klang seine Stimme ruhig und liebevoll wie immer. »Dort unten ist sie in Sicherheit vor dem Pöbel draußen.«
* * *
Nachdem Johannes und Hartmann Schedel dem Büttel mit der schiefen Nase eröffnet hatten, dass der auf dem Seziertisch so furchtbar verendete Vogel ein Schwan gewesen war, hatte der Mann nichts weiter hören wollen und die beiden Brüder auf der Stelle ins Rathaus geleitet. Bruder Aurelius hatte es vorgezogen, ins Kloster zurückzukehren, und Johannes hoffte, dass er nun in der Kirche auf Knien lag und für sie betete.
Sie würden es gebrauchen können.
Die Zustände in der Stadt, der Wahnsinn der Menschen, das niedergehende Gewitter, all das hatte in Johannes die Überzeugung geschaffen, dass es gut war, sich endlich alles von der Seele zu reden. Wenn Zeuner erfuhr, was damals in Padua geschehen war, würde er diesem ganzen Spuk ein Ende bereiten können.
Endlich in Zeuners Kontor angekommen, gab der Büttel dem Bürgermeister eine kurze Zusammenfassung der Dinge, die Hartmann und Johannes ihm im Haus des Medicus erzählt hatten.
»Ihr habt also damals in Padua Schwäne seziert«, sagte Zeuner, nachdem der Büttel geendet hatte. »Lebende.« Er verzog das Gesicht, als schmecke er etwas besonders Ekeliges auf der Zunge.
Hartmann, der jetzt gänzlich blass, aber völlig ruhig und gefasst war, räusperte sich. »Einen einzigen nur. Aber lasst mich Euch die Sache von Anfang an erzählen.« Er wiederholte die Details über ihre Zusammenarbeit mit Peter Ludder und den Auftrag des Tiroler Herzogs, nach einem Mittel gegen seine Herzschwäche zu suchen.
»Wir sezierten Katzen und Hunde, aber auch Vögel. Wir erhofften uns Erkenntnisse, die es uns ermöglichen würden, das Leben unseres Herrn zu retten. Leider machten wir beim Betäuben des Schwanes einen fürchterlichen Fehler. Er schlief nicht tief genug, und während einer der Männer sein Herz freilegte, wachte das Tier plötzlich auf. Wir hatten bei unserer Arbeit ab und zu junge Männer bei uns, Helfer, die uns Instrumente reichen oder entnommene Organe zur Seitelegen mussten. Einer dieser jungen Männer, fast ein Kind noch, war an jenem Tag dabei, als der Schwan aus seiner Betäubung erwachte. Und er wurde irre daran.« Hartmann hielt inne und starrte mit leerem Blick in die Ferne. »Habt Ihr schon einmal einen Schwan im Todeskampf schreien hören?«
Johannes drehte sich der Magen um, allein bei der Erinnerung daran.
Er sah Zeuner den Kopf schütteln. »Nein. Sprecht weiter!«
Hartmann tat, wie ihm geheißen. »Wenige Tage später gab es in Padua einen Engeltoten.«
Zeuner ächzte.
»Der Mörder war – nun, einer unserer jungen Assistenten. Der Anblick des sterbenden Schwans hatte den armen Kerl um den Verstand gebracht. Er litt an einer schweren Krankheit, und da war es nur noch ein kleiner Stoß, den sein Geist brauchte,
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