Seraphim
existiert.
»Er war viele Jahre älter als Sebald«, gab sie nun Richards Wissen an ihre Mutter weiter. »Und er war Sigrids ungeliebtes Kind. Als Sebald auf die Welt kam, zog sie ihn Lorenz in allem vor. Sebald war der Brave, er war ihr Engel.« Katharina fröstelte bei diesen Worten. »Und dann erkrankte Sebald an einem schrecklichen Leiden.«
»Das ihn so entstellt hat?«
Katharina nickte und schaute auf das Buch auf ihrem Schoß nieder. Sie hatte bisher nicht herausgefunden, was es mit dieser Krankheit auf sich hatte, die Hartmann Schedel und mit ihm auch Richard als »Antoniusfeuer« bezeichneten. Alles, was sie wusste, war, dass sie zu Verstümmelungen und manchmal zu Wahnsinn führen konnte.
»Sigrid begann zu glauben, dass Lorenz seinen jüngeren Bruder verflucht hatte«, fuhr Katharina fort. »Sie machte ihn für Sebalds Krankheit verantwortlich. Und damit ekelte sie ihn irgendwann aus dem Haus. Danach hat man Lorenz nie wiedergesehen.«
Eine Weile herrschte Stille im Raum.
»Sebald hat mich hin und wieder besucht«, begann Mechthild dasGespräch schließlich von Neuem, und Katharina hörte einen ganz leisen Vorwurf in ihren Worten.
... in jener Zeit, in der du mich nie besucht hast ...
»Ich weiß«, sagte Katharina. Sie presste die Lippen zusammen. Sie würde sich mit ihrer Mutter nicht streiten, nicht hier und nicht jetzt!
Zu ihrer Erleichterung schien auch Mechthild nicht an einem Streit interessiert. »Es fällt mir schwer, ihn mir als einen Mörder vorzustellen. Schwanenflügel!« Sie schauderte, und ihre Finger schlossen sich um die Stickerei.
»Mir auch.« Katharina senkte die Lider, doch sofort sah sie Matthias vor sich, den weißen Flügel, der durch den Staub gezogen wurde. »Aber die ganze Stadt war nicht bei Sinnen in den letzten Tagen.«
»Gibt es eine Erklärung dafür?«
Katharina schüttelte den Kopf. »Die Brunnen wurden ein weiteres Mal untersucht, aber man konnte keinen Hinweis auf Vergiftungen finden. Niemand weiß, was über Nürnberg gekommen ist, und ich fürchte, das Gerede von Hexen und Zauberern wird wieder zunehmen.« Sie verspürte einen Anflug von Angst bei diesem Gedanken, gepaart mit einer leisen Verzweiflung, weil sie nicht wusste, wie es mit ihr nun weitergehen sollte. Sie würde nicht ewig verheimlichen können, dass sie noch am Leben war. Und was dann? Voller Unbehagen kehrte Katharina zu dem Gespräch über Sebald zurück.
»Sigrid war in den letzten Jahren zunehmend verwirrt. Sie erkannte Sebald nicht mehr, und vielleicht machte sie sich auch Vorwürfe, dass sie ihren älteren Sohn damals vergrault hat. Jedenfalls wusste sie oft nicht mehr, wen sie vor sich hatte. Sie machte Sebald die gleichen Vorwürfe, wie sie damals Lorenz gemacht hatte, verlangte von ihm, ihr kleiner Engel zu sein. Das muss in Sebald einen ganz eigenen Wahnsinn ausgelöst haben. Hartmann Schedel vermutet, dass er versucht hat, seiner Mutter die Engel zu schenken, weil er selbst ihren Ansprüchen nicht gerecht werden konnte.«
»Furchtbar!« Mechthild hob beide Hände an den Mund und bedeckte ihn mit den Fingern. Katharina sah, dass ihre Nägel blau angelaufen waren.
»Frierst du?« Sie erhob sich.
Mechthild ließ die Hände wieder sinken. »Nur innerlich. Wenn diese beiden Medici wussten, was damals in Padua geschehen ist, warum dauerte es dann so lange, bis sie eingegriffen haben?«
Dafür konnte Katharina auch keine vernünftige Erklärung geben. In ihren Augen hätte Bruder Johannes in dem Moment die richtigen Schlüsse ziehen müssen, in dem er Matthias’ Leiche zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte. Immerhin wusste er, dass der Mann, der damals in Italien den Engelmord begangen hatte, sich hier in Nürnberg aufhielt. »Wahrscheinlich waren sie wie gelähmt. Außerdem hatte Sebald in Padua die Flügel nicht im Fleisch seines Opfers befestigt, sondern nur an dessen Kleidung.« Hilflos zuckte Katharina die Achseln. »Es ist eine schwache Erklärung, ich weiß. Wahrscheinlich haben die beiden selbst keine bessere.«
»Menschliche Feigheit«, sann Mechthild. »Es ist nichts schwerer, als die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Werden sie zur Rechenschaft gezogen werden?«
»Wofür? Sie haben nichts getan. Außer zu schweigen.« Richard hatte ihr berichtet, dass Bürgermeister Zeuner dafür sorgen würde, dass Hartmann Schedel niemals einen Platz im Stadtrat erhielt. Größer würde seine Strafe nicht ausfallen, denn der Mord damals in Padua ging den Nürnberger
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