Seraphim
was mit ihnen geschehen sollte.
Bis auf einen Mann, der noch immer mit flammendem Blick in seiner Zelle hockte und von Engelheerscharen faselte, waren alle anderen, die von der Raserei befallen worden waren, wieder vernünftig geworden. Wie verkaterte Säufer hockten sie in ihren Gefängnissen, hielten sich die schmerzenden Köpfe und Glieder und konnten sich nicht erklären, was sie angetrieben hatte. Durch eine Befragung, die der Rat angeordnet hatte, war herausgekommen, dass die meisten von ihnen vor Beginn der Hinrichtung Wasser aus dem nahegelegenen Brunnen getrunken hatten. Danach hatte rasch das Gerücht die Runde gemacht, der Brunnen sei vergiftet gewesen. Es kam zu weiteren Ausschreitungen. Eine Bande junger Männer fiel in das Judenviertel ein, das sich im östlichen Teil der Stadt befand, und brannte zwei Wohnhäuser und ein Spital ab. Dreiundzwanzig Juden kamen dabei ums Leben, und die Brandstifter fanden sich kurze Zeit später im Stock des Lochgefängnisses wieder, weil keine andere Zelle mehr für sie frei war. Zwei Wäscherinnen von der Heubrücke wurden auf offener Straße überfallen und niedergeknüppelt, weil man sie für Hexen hielt. Ein paar beherzte Bürger konnten gerade noch verhindern, dass die Angreifer die beiden Frauen in Brand setzten.
Um neuen Ausschreitungen vorzubeugen, hatte BürgermeisterZeuner selbst sich am Morgen des 12. August der Untersuchung des Rabensteinbrunnens angenommen. Mit zwei Stadtbütteln war er hinaus zum Richtplatz gegangen und hatte das Wasser probiert. Er war gesund geblieben, und um die aufgebrachte Volksseele zu besänftigen, hatte er die Demonstration kurz vor Sonnenuntergang in einer öffentlichen und weithin angekündigten Zeremonie wiederholt. Seitdem kursierten in der Stadt ein halbes Dutzend Geschichten über seinen Mut und genauso viele über seine Dummheit. Trotzdem hatte er erreicht, was er wollte: Die Menschen waren überzeugt davon, dass der Brunnen nicht vergiftet gewesen war.
Im Morgengrauen des 13. Augusts tauchten die Geißler wieder auf, doch die Stadtbüttel vertrieben sie sofort. Der Stadtrat ließ an allen Ecken ausrufen, dass jeder, der auf der Straße die allgemeine Verwirrung durch seine Reden noch steigerte, sofort ins Loch gesteckt werden würde.
Am Nachmittag des 14. August saß Katharina in der Wohnstube ihres eigenen Hauses und hielt den Kopf ins Sonnenlicht, das schräg durch das Fenster fiel und goldene Muster auf Decke und Wände malte. Bis eben hatte sie versucht, in einem Buch zu lesen, aber ihre Gedanken schweiften in einem fort ab. Die Wunde an ihrem Hals schmerzte ein wenig und auch ihre Kehle, deren Krampf sie noch immer zu verspüren meinte. Seufzend stützte sie das Kinn in die Hand und schloss die Augen.
»Woran denkst du?« Die Stimme ihrer Mutter drang leise, beinahe zögerlich in ihre Gedanken ein. Soweit Katharina wusste, hatten Richard und Arnulf nur Mechthild und Bertram verraten, dass sie noch am Leben war. Bertram hatte Katharinas Mutter an diesem Vormittag in Egberts Haus gebracht, damit sie Katharina etwas Gesellschaft leistete, und war sofort wieder verschwunden, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie bequem saß.
Katharina öffnete die Augen wieder. »An nichts.« Ihre Stimme war noch heiser von dem Erlittenen, aber Richard hatte ihr versichert, das würde sich bald wieder geben.
Mechthild ließ die Stickerei sinken, an der sie arbeitete. Der helle Leinenstoff verdeckte ihre knochigen Knie. »Stimmt nicht.« Sie wartete einen Moment. »Matthias? Sebald? Oder Bertram?«
Katharina zwang sich zu einem Lächeln. Es ging ihr nach all den schrecklichen Ereignissen noch nicht besonders gut, aber immerhin konnte sie sich bewegen und sprechen und wenigstens so tun, als sei alles wieder im Lot. Dafür, dass sie offiziell tot war, dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor, fühlte sie sich sogar ausgezeichnet.
Und wenn sie ganz ehrlich auch mit sich selbst war, dann war es Richard, an den sie am häufigsten dachte. An die Art und Weise, wie er sie wieder und wieder geküsst hatte, und an die Tränen, die ihm dabei über das Gesicht geflossen waren. Nachdem Arnulf einen Weg gefunden hatte, Katharina heimlich zurück in die Stadt zu schaffen, hatte Richard sie zu sich nach Hause bringen wollen. Doch Katharina hatte darauf bestanden, in ihr eigenes Haus gebracht zu werden, und schließlich hatte er, wenn auch zähneknirschend, eingewilligt. Seit dem Augenblick, da er gegangen war, war er noch zweimal
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