Seraphim
der von der Bühne auf den regendurchweichten Boden am Flussufer hüpfte, war der Inquisitor.
»Lasst mich durch!«, befahl er harsch und stieß Arnulf einfach zur Seite. Aus den Tiefen seiner Kutte zog er einen kleinen silbern glänzenden Spiegel, beugte sich über Katharina und hielt ihn ihr vor Mund und Nase.
Richard wurde eiskalt.
Kein Atem. Der Spiegel blieb klar.
»Gott!«, murmelte Arnulf, doch der Inquisitor richtete sich zu seiner vollen Größe auf, drehte sich zu den Stadträten und der wartenden Menge um und rief: »Sie ist tot. Damit ist ihre Unschuld eindeutig bewiesen!«
Ein langgezogenes, klagendes Heulen ertönte. Richard sah, wie Mechthild sich mit den Armen zum Rand der Bühne zog und hinab zu ihrer toten Tochter blickte.
»Katharina!« Sie wimmerte kaum hörbar. »Nein! Kind! Nicht du auch noch! Warum, Herr? Warum nimmst du mir auch noch das letzte Kind?« Bertram ging neben ihr auf die Knie, umfing sie mit den Armen und zog sie an sich. Sie ballte die Hände zu Fäusten und trommelte damit auf ihn ein. »Du bist schuld!«, kreischte sie, und nun hallten ihre Worte über die Wiesen bis hin zur Stadtmauer. »Du hast sie umgebracht!«
Der Inquisitor warf einen Blick auf die Szene, in dem Verachtung und Triumph gleichermaßen lagen. Dann wandte er sich ab und marschierte einfach davon.
Ganz kurz sah Richard Bürgermeister Zeuners blasses und fassungsloses Gesicht in der Menge, dann hatte Arnulf plötzlich ein Messer in der Hand. Er durchtrennte die Stricke, die Katharina hielten. Vorsichtig hob er sie auf die Arme und brachte sie ein Stück abseits zu einem Gebüsch, das sie vor den Blicken der Schaulustigen verbarg. Dort legte er sie ab und trat zurück, während Richard neben ihr niederfiel und beide Hände rechts und links von Katharinas Leib in die Erde stemmte, um nicht gänzlich zusammenzubrechen. Er legte den Kopf auf Katharinas Brust und schloss die Augen. Tränen drangen unter seinen Lidern hervor, und er konnte nur einen einzigen Gedanken fassen.
Tot.
Wie Magdalena.
Ertrunken.
Wie Cesare Vasari.
Ein kaum wahrnehmbares Echo brachte den Strom seiner Gedanken zum Stocken. Ihr Herz schlug noch! Richard fuhr hoch.
»Was ...?« Mit aufgerissenen Augen sah Arnulf ihn an.
»Scht!« Er fasste an Katharinas Hals. Fühlte ihren Puls, der unregelmäßig, aber deutlich spürbar unter seinen Fingerspitzen pochte. »Kümmere dich darum, dass niemand uns sieht!«, zischte er Arnulf zu.
Der Nachtrabe verschwand, und im selben Moment riss Katharina die Augen auf. Ihr Körper bäumte sich in die Höhe, ihr Mund öffnete sich, wollte Luft einsaugen. Richard hielt ihre Arme fest, als sie begann, um sich zu schlagen. Im Licht der Fackeln konnte er erkennen, wie ihre Augäpfel voller Panik hervorquollen. Ihr Brustkorb erbebte wie unter furchtbarer, unmenschlicher Anstrengung.
Sie bekam keine Luft!
In diesem Moment schossen Bilder vor Richards innerem Auge vorbei, in so schneller Reihenfolge, dass er ihnen kaum folgen konnte. Er selbst. Unter Wasser. Der gnadenlose Schmerz in seiner Kehle. Der Junge in Pömers Keller. Seine mit Wasser gefüllte Lunge. Die Lunge der ertrunkenen Frau. Ohne Wasser.
Er packte Katharina an den Schultern, drückte sie zu Boden, fuhr mit der flachen Hand über ihre verkrampfte Kehle, unsicher, was er tun sollte. Mit fliegenden Fingern entfernte er den Verband, den Hartmann Schedel ihr angelegt hatte.
Katharinas Blicke zuckten wild umher, die Muskeln an ihrem Hals zogen sich ruckartig zusammen. Ihr Gesicht lief blau an. Dann löste sich der Krampf in ihrem Hals, und mit einem lauten Keuchen sog sie Luft in ihre Lungen.
Richard zog sie an sich und umschlang ihren Hinterkopf mit seinen Händen. Überglücklich bedeckte er ihr Gesicht mit Küssen.
»Du lebst! Es ist ein Wunder, du lebst!«, flüsterte er. »Du lebst, bei Gott!« In seinen Augen standen noch immer Tränen, aber jetzt waren es Tränen der Freude und der Erleichterung.
22. Kapitel
Die Abendmessen in den Kirchen Nürnbergs hatten noch längst nicht begonnen, aber dennoch saßen in den Bänken der Gotteshäuser sehr viel mehr Menschen als an anderen Tagen. Die meisten hatten die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt, um still zu beten, aber einige starrten auch einfach zu den Altären und Kreuzen hinauf. Es waren jene, die bei dem Aufruhr am Rabenstein oder in der Sebalder Stadt Angehörige verloren hatten – oder deren Angehörige jetzt im Loch saßen und darauf warteten, dass der Rat darüber entschied,
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