Seraphim
von ihm abgewandt zu haben. Es gelang Johannes nicht, Christus’ Blick aufzufangen.
Mit einem tiefen Seufzen ließ er den Kopf wieder auf die Hände sinken und begann von Neuem: »Pater noster ...« Diesmal stockte erschon nach den ersten beiden Worten. »Heilige Maria«, flüsterte er, »bitte für uns und für Bruder Markus, und verleih uns die Kraft, dem standzuhalten, was auf uns zukommen mag.«
Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Luftzug strich seinen Nacken entlang, und es fühlte sich an, als habe etwas Unsichtbares seine Haut gestreift.
Mit angehaltenem Atem hockte er da, den Hals steif vor Angst, die Schultern hochgezogen, so dass sie fast seine Ohrläppchen berührten. Dann endlich gab er sich einen Ruck und drehte sich um. Halb erwartete er, eine Ausgeburt der Hölle hinter sich stehen zu sehen, einen Teufel mit schwarzer Haut und rotglühenden Hörnern, der die Klaue nach ihm ausstreckte und ihn mit Wahnsinn schlug, so wie er Bruder Markus, den Inquisitor, geschlagen hatte.
Doch die Zelle hinter ihm war leer.
Er war allein.
Die Sonne musste inzwischen hoch am Himmel stehen, doch da Johannes die Läden geschlossen hatte, herrschte in seiner kleinen Kammer dämmriges Zwielicht. Nur die beiden Kerzen, die er rechts und links vom Kruzifix auf zwei Wandborden aufgestellt hatte, flackerten vor sich hin.
Johannes kniff die Augen zusammen. Bewegte sich dort etwas in den Schatten? Seine Blase verkrampfte sich ruckartig, und der Drang, die Latrina aufzusuchen, trieb ihn auf die Füße.
»Weiche von mir!«, hauchte er, tastete nach dem Kreuz, das ihm an einer silbernen Kette um den Hals baumelte, und schloss die Faust so fest darum, dass sich ihm die Enden des kleinen Querbalkens schmerzhaft in die Haut bohrten. Er hob das Kreuz in die Höhe.
Die Dunkelheit in der Zimmerecke blieb still.
Nichts rührte sich, und trotzdem hatte Johannes das unheimliche Gefühl, dass sich noch jemand mit ihm in der Zelle befand. »Maria voll der Gnaden«, betete er und griff auch noch mit der anderen Hand nach dem Kreuz. Ohne es loszulassen, wischte er sich mit dem Rücken der Rechten über die Stirn. Die silberne Kette war gerade lang genug, um das zuzulassen. Kühl und glatt schmiegte sie sich an seine Wange und die Seite seiner Nase.
Es überraschte Johannes, dass seine Stirn trocken und kühl war. Er fühlte sich fiebrig.
War da ein leises Flüstern zu hören? Rief ihn jemand? Er legte den Kopf schief, um zu lauschen. Fast wartete er auf das grelle Flimmern, das er in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Doch es kehrte nicht zurück.
Johannes hielt den Atem an. Wieder glaubte er, eine leise Stimme zu hören, ein kehliges Lachen, das ihn verspotten wollte.
»Weiche von mir, Satan!«, schrie er aus voller Kehle. Dabei stolperte er rückwärts, bis er das Fenster in seinem Rücken spürte. Er ließ das Kreuz mit der Rechten los, tastete hinter sich und riss die Läden auf.
Helles, freundliches Licht flutete die Zelle und vertrieb alle Schatten.
Johannes ließ das Kreuz sinken.
Er war allein.
Ein kräftiges Pochen an seiner Tür ließ ihn erschrocken aufschreien. »Bruder Infirmarius?«, hörte er die Stimme von Guillelmus. »Geht es Euch gut?«
Langsam öffnete Johannes die Hand. Es fühlte sich an, als müsse er die Enden des Kreuzes aus seinem Fleisch herausziehen, doch als er genauer hinsah, fand er keinerlei Verletzungen, nur zwei tiefe, weiße Druckstellen, in die jetzt rasch das Blut zurücklief. »Es ist alles gut!«, rief er und musste sich räuspern.
War es das? Drohte ihm dasselbe zu widerfahren wie dem Inquisitor? Johannes schloss die Augen und atmete tief durch.
Noch einmal schaute er misstrauisch in jede Ecke des Raumes. Er war tatsächlich allein.
Der Teufel hatte sich zurückgezogen.
4. Kapitel
Die Fliege auf dem Schnabel des Schwans begann, sich die Flügel zu putzen, und Katharina konnte nicht anders, als ihr dabei zuzusehen. Das winzige Tier strich mit den Hinterbeinen über die durchsichtigen Häutchen, bog sie zum Ende hin um und bürstete wieder und wieder über sie hinweg. Dann endlich war es fertig, schüttelte die Flügel aus und testete das Ergebnis seiner Putzarbeit. Kurz erhob es sich in die Luft und landete sogleich wieder.
Das Summen der Fliege klang überlaut. Katharina ließ die Hände sinken, und wieder verlor alles rings herum seine Farben. Ihre Schultern sanken nach unten, und ihr war, als lege sich ein Gewicht aus Blei auf ihren Brustkorb. Das Bedürfnis zu seufzen wurde
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