Seraphim
ausreichend.
Katharina suchte in Bertrams Miene nach einer Empfindung, abersie fand nichts. Seine Augen waren blank und leer. Ausdruckslos. Mechthild beugte sich vor und griff nach seinem Unterarm. Er nahm ihre Finger in beide Hände und streichelte mit den Daumen über ihr Handgelenk. Katharina wandte den Blick ab.
Sie hielt es hier drinnen nicht mehr aus. Sie wollte raus, wollte laufen, quer durch die Gassen der Stadt, hinauf bis zur Burg und weiter, aus der Stadt hinaus, über die Felder und durch den Wald, bis sie keine Luft mehr bekam, bis der Krampf in ihr sich gelöst hatte und sie stehenbleiben konnte, um endlich wieder frei atmen zu können.
Sie riss die Tür auf, rannte nach draußen auf die Diele, dann die Treppe hinunter und hinaus ins Freie.
Mechthild rief ihr etwas nach, aber sie hörte es kaum noch.
Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, und es war heiß.
Vom nahen Fleischhaus wehte ein unangenehm süßlicher Geruch von Blut herüber. Katharina beugte sich über das Geländer des Henkerstegs. Würgend übergab sie sich.
* * *
Johannes hatte seine weiße Kutte geschürzt, um nicht über ihren Saum zu stolpern. Es war ihm egal, dass er ungehörig viel von seinen Beinen sehen ließ, als er über das Pflaster der Burgstraße hastete, zu froh war er darüber, die Erlaubnis zum Verlassen des Klosters bekommen zu haben. Prior Claudius war nicht erbaut von seiner Bitte gewesen, und er hatte deutlich gemacht, dass er mit dem Gedanken spielte, allen Mönchen für die nächste Zeit den Ausgang zu sperren.
Die Sonne brannte vom Himmel herab, und kaum dass er die schattigen Gänge des Klosters verlassen hatte, rann ihm bereits der Schweiß von der Stirn. Er wischte sich über das Gesicht, doch es nützte nicht viel.
Das Haus von Hartmann Schedel, seinem Bruder, lag nicht weit vom Kloster entfernt, doch kurz bevor Johannes es erreichte, überfiel ihn zum wiederholten Male das Bedürfnis, sich zu erleichtern. Mit Müh und Not erreichte er einen der Abtrittanbieter, der sich in einem schmalen, uneinsehbaren Nebengässchen aufhielt und auf seine Kundschaft wartete. Der ältliche Mann war sichtlich erschüttert darüber, einen Mönch als Kunden zu haben. Kaum hatte er seinenweiten Mantel um Johannes geschlungen, entleerte sich dessen Darm mit einem krampfhaften Ächzen in den bereitgestellten Eimer. Mit tränenden Augen bat Johannes anschließend um Vergebung dafür, dass er keine Münzen bei sich hatte, um den Mann für seine Dienste zu bezahlen.
»Betet ein Vaterunser für mich«, brummte der, und Johannes ließ ihn einfach stehen.
Vom Laufen tränten seine Augen noch stärker.
Er erreichte das Haus seines Bruders, schenkte dem ausladenden und bunt angemalten Wappen über der Eingangstür nur einen kurzen Blick, dann zerrte er mit solcher Kraft am Klingelzug, dass die Glocke im Inneren des Hauses einen misstönenden Klang von sich gab.
»Öffne!«, murmelte er vor sich hin. »Los doch!«
Von drinnen erklangen Schritte, dann wurde die Tür aufgezogen, und das Gesicht irgendeines Dienstmädchens schwebte vor Johannes’ tränenden Augen. Er musste blinzeln, um zu erkennen, mit wem er es zu tun hatte. Nicht, dass es ihm weitergeholfen hätte, denn er konnte sich die Namen des Personals, das Hartmann beschäftigte, sowieso nie merken. »Ist mein Bruder da?«, ächzte er und wischte sich über Lider und Wangen.
Das Mädchen rümpfte die Nase. Johannes fühlte sich bemüßigt, sich zu erklären. »Ich bin gelaufen«, stammelte er. »Da kommen mir manchmal die Tränen. Ist der Doktor nun da oder nicht? Es ist sehr wichtig, dass ich ihn sprechen kann!«
»Kommt herein.« Das Mädchen ließ Johannes eintreten. Durch einen langen Flur führte sie ihn in das Kontor und bat ihn, dort für einen Moment Platz zu nehmen. »Ich werde ihn holen.« Mit diesen Worten verschwand sie und ließ Johannes mitten im Raum stehen.
Er war viel zu aufgebracht, um sich ruhig hinzusetzen, also wandte er sich stattdessen dem Schreibpult zu. Ein dicker Stapel Papier lag dort, fein säuberlich ausgerichtet. Eine Schreibfeder mit dunkelrot gefärbter Fahne ruhte auf dem oberen Blatt und sandte Johannes bei ihrem Anblick eisige Schauer den Rücken hinunter. Vorsichtig schob er sie zur Seite, um zu lesen, woran sein Bruder zuletzt gearbeitet hatte.
Es war ein Gedicht. Der erste Buchstabe war vergrößert geschrieben und mit einigen schwarzen Tintenschnörkeln wie eine Initiale verziert. Johannes versuchte, die winzige und ziemlich
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