Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
Erbarmen!«, schrie einer der Geißler über die Köpfe der Menschen hinweg. Seine Gefährten setzten sich in Bewegung. In völligem Gleichmaß hoben sie allesamt ihre Peitschen an, doch diesmal erfolgte kein weiterer Schlag.
    Ein Mann drängte sich durch die Menge der Gaffer. Mit finsterem Gesicht trat er den Geißlern in den Weg.
    Der Anführer hielt inne, ließ seine Peitsche jedoch nicht sinken. Es sah aus, als wolle er den Störenfried aus dem Weg prügeln.
    Der Mann breitete die Arme aus.
    »Fort mit Euch!«, fuhr ihn der Anführer der Geißler an. »Ihr stellt Euch Gottes Gerechtigkeit in den Weg!«
    Der Mann, der gut einen halben Kopf größer war als der Geißler, schnaubte. »Was Ihr hier verkündet, hat mit Gottes Gerechtigkeit nichts zu tun!«
    »Die Teufel sind auch hinter dir her«, sagte der Geißler. Seine Stimme hallte weithin hörbar über den Platz, und in der Menge waren nicht wenige, die sich an Brust oder Gesicht fassten und mit sichtbar schlechtem Gewissen die Köpfe senkten. »Sie haben deine Zunge bereits verhext, und deinen Geist ebenso.«
    Richard spürte das Seufzen, das durch die Menge wogte, beinahe körperlich.
    »Das lasst ganz allein meine Sorge sein«, erwiderte der Mann. Dann streckte er den Arm aus und wies auf die Frau mit dem Kind. »Sie ist mein Weib. Sie wird nicht mit Euch gehen!«
    Der Geißler wandte sich zu der Frau um. Sie stand hoch aufgerichtet da, das Gesicht so blass, dass Richard fürchtete, sie würde im nächsten Moment ohnmächtig zu Boden sinken. Ohne ein einziges Mal zu blinzeln, begegnete ihr Blick dem ihres Mannes.
    Der Geißler ließ endlich seine Peitsche sinken. »Überleg dir gut, Frau«, sagte er, »wem du gehorchen willst, dem Herrn oder deinem Mann. Denn es steht geschrieben: Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen. «
    Die Frau blickte zu ihrem Mann. Das Kind auf ihrer Hüfte begann leise vor sich hinzuweinen. Richard spürte einen Stich im Herzen. Am liebsten wäre er hinzugesprungen und hätte der Mutter das Kleine entrissen, um es zu trösten. Aber er rührte sich nicht. Wie gebannt starrte er auf die beiden Männer, die sich jetzt gegenüberstanden wie Kampfhähne.
    Bevor der Ehemann etwas sagen konnte, wurden aus Richtung des Rathauses Stimmen laut. Schwere Stiefeltritte waren zu hören, und dann schrie eine befehlsgewohnte Stimme: »Auseinander! Sofort!«
    Die Menschen begannen sich zu zerstreuen. So rasch leerte sich der Platz, dass Richard jetzt erkennen konnte, wer so laut gebrüllt hatte.
    Es war der Hauptmann der Stadtbüttel. Er war auf die oberste Stufe des Schönen Brunnens geklettert, so dass er alle anderen überragte. Vier seiner Männer hatten sich hinter ihm aufgebaut, die Hände an den Schwertern, die Gesichter undurchdringlich und finster, und ein paar bewaffnete Bürger, für die Verteidigung der Stadtmauern im Kriegsfall zuständig, gesellten sich zu ihnen.
    »Ich bin von den Stadträten Zeuner und Berthold beauftragt, diese Versammlung auf der Stelle zu beenden«, rief der Hauptmann. »Dieser Mann«, er wies auf den Anführer der Geißler, »hat keinerlei Genehmigung, auf offener Straße zu predigen!«
    Der Geißler öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder und kniff ihn zu einer blassen Linie zusammen. Schließlich nickte er mit übertrieben trauriger Miene. »Man hat mich gewarnt«, sagte er. Einige Menschen blieben stehen, doch er scheuchte sie davon. »Geht!«, befahl er. »Geht zurück in eure Häuser und lebt euer Leben, wie ihr es gewohnt seid. Aber seid auf der Hut! Die Hölle ist ...«
    »Schluss jetzt!« So laut donnerte die Stimme des Hauptmanns über den Platz, dass Richard zusammenzuckte.
    Der Geißler warf die Peitschenschnüre über seine Schulter. Herausfordernd schaute er dem Hauptmann dabei ins Gesicht, aber der rührte keinen Muskel.
    Der Geißler nickte. Dann ging er. Seine Schultern hingen herab, als habe er das Gewicht der gesamten Welt zu tragen.
    Inzwischen neigte sich der Tag dem Abend zu. Nachdem sich auch die letzten Menschen zerstreut hatten, fiel Richards Blick auf eine schmale Gestalt, die im Schatten des Rathauses stand.
    Katharina.
    Selbst über die Entfernung, die sie trennte, konnte Richard erkennen, dass sie die Szene mit großem Schrecken verfolgt hatte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht bleich.
    Bevor er sie auf sich aufmerksam

Weitere Kostenlose Bücher