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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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anderen überhaupt wahrzunehmen. Ich kaufte mir ein Büchlein über die Gegend von Bad Arolsen und fragte bei der Gelegenheit, ob sie auch etwas von Erich Auerbach hätten, was aber nicht der Fall war, und erst recht nicht auf Englisch, wie ich es gebraucht hätte.
    Ich fand den Bahnhof und fuhr nach Kassel, wo ich nach Bad Arolsen umstieg. Auf der Fahrt durch das verschneite, in allen Details so ordentlich wirkende Deutschland musste ich daran denken, was dort sechzig Jahre früher geschehen war. Geographie ist Schicksal, aber Geschichte ist eben auch Schicksal. Wer damals hier lebte, musste die Schrecken des zwanzigsten Jahrhundertsdurchmachen. Wer dagegen das Glück hatte, erst im letzten Teil jenes Jahrhunderts zur Welt zu kommen, dem waren Wohlstand, Sicherheit und Freiheit beschert.
    In dem Büchlein, das ich gekauft hatte, machte Bad Arolsen einen überraschend hübschen Eindruck. Allerdings stammten die Aufnahmen alle aus dem Frühling oder Sommer, und mich würde wohl einheitliches Weiß erwarten.
    Über dem ITS stand da, dass er 1946 gegründet worden war und vom Internationalen Roten Kreuz sowie vom deutschen Staat verwaltet wurde.
    Als ich an dem kleinen Bahnhof ausstieg, war es bitterkalt. Ich ließ mich ins Hotel bringen, das zu der Jahreszeit fast leerstand. Auf dem Zimmer konnte ich meine E-Mails lesen. Das türkische Außenministerium schrieb: »Zu diesem Thema sind in unserem Ministerium keine Dokumente vorhanden.«
    Nichts anderes hatte ich erwartet. Wenn sogar eine Institution wie das britische Imperial War Museum die Hunderten von Toten der Struma praktisch ignorierte, war es nur naiv, die Türkei um ein offizielles Dokument zu bitten. Aber versucht hatte ich es wenigstens.
    Ich schlief in der Nacht problemlos durch, und sogar ohne Medikamente. Ausgeruht ließ ich mich zum ITS fahren, doch als ich davorstand, bekam ich vor Aufregung einen trockenen Mund. Schließlich hatte ich eine Art digitalen Friedhof vor mir, der Dokumente und Fotos von Millionen von Kriegsopfern enthielt.
    Am gemauerten Sockel vor dem Eingang stand unter einer kleinen Straßenlaterne ITS , Internationaler Suchdienst . Es war ein sehr stiller Ort. Ich betrat das Gebäude und meldete mich an. Ein rundlicher Mann mittleren Alters bat mich um einen Ausweis, und ich reichte ihm meinen grünen Pass, in dem vermerkt war, dass ich der Universität Istanbul angehörte. Der Mann fand in seinem Computer meinen Antrag und fotokopierte meinen Pass. Da fühlte ich mich bemüßigt zu sagen: »An unsere Universität sind während des Dritten Reichs viele jüdische Wissenschaftler gekommen.«
    Das war überflüssig, doch der Angestellte lächelte.
    »Ich weiß«, sagte er. »Haben Sie unsere Benutzerregelung gelesen?«
    »Ja.«
    »Gut. Sie sind jetzt eingetragen. Kommen Sie bitte mit.«
    Wir liefen durch stille Gänge, und mir ging der Puls immer schneller. Es war tatsächlich, als wären wir auf einem Friedhof.
    Ich war auf kilometerlange Regale eingestellt, stattdessen wurde ich in einen Raum geführt, in dem lediglich Tische, Stühle und Computer standen. An einem Tisch am Fenster saßen zwei dunkelgekleidete Kinder, ein Junge und ein Mädchen, was mich etwas überraschte. Noch dazu hatten sie etwas Seltsames an sich, das heißt, sie wirkten zugleich wie Kinder und wie Erwachsene. Von dem Angestellten wurde ich alleine gelassen, und im ersten Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte. Der Junge sagte etwas auf Deutsch zu mir, mit ziemlich tiefer Stimme. Als ich ihm bedeutete, dass ich kein Deutsch verstünde, flüsterte er auf Englisch: »Nehmen Sie Platz. Es kümmert sich gleich jemand um Sie.«
    Da begriff ich, dass die beiden nicht Kinder, sondern kleinwüchsige Erwachsene waren. Sie konnten kaum über die Tischplatte hinaussehen. Lächelnd dankte ich ihnen. Bald darauf kam eine schlanke Frau herein, die sich mir als Angelika Traub vorstellte und mich zu einem Computer führte. Es war also alles digital gespeichert, und ich sollte einfach einen Namen angeben, um mit der Suche zu beginnen.
    »Herbert Scurla«, sagte ich.
    »Ist das der Name eines Opfers?«
    »Nein, es war ein Sondergesandter Hitlers, aber in seinen Unterlagen müsste etwas über Naziopfer stehen, die in den dreißiger Jahren nach Istanbul geflüchtet sind. Insbesondere interessiere ich mich für Professor Maximilian Wagner.«
    Als wir den Namen Maximilian Wagner eingaben, begann mein Herz zu klopfen: Ja! Da waren sie, die Unterlagen, die Scurla bei Matilda Arditi

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