Serenade für Nadja
wurde eine geringe Gebühr erhoben. Es genügte, online einen Antrag auszufüllen.
Ich trug mich als »Forscherin« ein, von der Universität Istanbul. Meine Kündigung war noch nicht durch, und bis dahin konnte ich von meinem Status ruhig noch profitieren.
Dann suchte ich mir ein Hotel aus. Da Bad Arolsen ein Heilbad war, gab es viele davon, und zu der Jahreszeit waren sie nicht besonders teuer. Ich entschied mich für das Hotel LandKomfort und buchte dort zwei Nächte. Dann packte ich vor allem warme Sachen ein.
Am folgenden Morgen stand ich früh auf, richtete Kerem das Frühstück her und legte ihm Geld daneben. Ins Wohnzimmer schaffte ich schnell noch zwei Waschschüsseln und stellte in die eine den Tannensetzling und in den zweiten alle anderen Topfpflanzen. Dann füllte ich in die Schüsseln einen Eimer Wasser.
Ich war mit dem leeren Eimer schon fast wieder draußen, da kehrte ich noch einmal um und strich zum Abschied liebevollüber die Tanne. Dann ging ich in Kerems Zimmer. Er schlief noch. Ich beugte mich zu ihm hinunter und küsste ihn.
Schon am Vortag hatte ich die Putzfrau angerufen und ihr Bescheid gesagt, dass sie nur einmal pro Woche zu kommen brauchte, um die Blumen zu gießen. Damit Ahmet nur ja nicht vergaß, Kerem von der Schule abzuholen, schickte ich ihm noch eine SMS.
Dann zog ich meinen dicken Mantel und die Winterstiefel an, nahm meinen Koffer und verließ die Wohnung.
Mein neues Leben konnte beginnen.
19
Ich habe einen guten Freund aus Mardin, der furchtbar gern von seiner Heimatstadt redet und immer immer erzählt, dass, als Tamerlan in Anatolien eingefallen sei, er einen einzigen Ort nicht habe erobern können, und das sei die Zitadelle von Mardin gewesen. Er erwähnt das immer, als sei es gestern passiert, worauf ich sage »Gratuliere. Ihr sei echt Helden«, und wir beide lachen müssen.
Eines Tages hat er mir die Geschichte von einem Mann aus Mardin namens İlyas-ı Habır erzählt.
İlyas hatte eines Tages in Rom Verwandte besucht, die dort ein Lokal betrieben. Tagsüber lief er allein in den Straßen herum und stieß eines Tages auf eine herrliche Parkanlage mit kleinen Teichen. Darin spazierte er, bis er merkte, dass es sich um einen Friedhof handelte. Die Grabsteine waren mit Blumen und marmornen Statuen reich geschmückt, doch als er die Inschriften sah, wunderte er sich. Es stand dort »21 Tage«, »34 Tage«, »17 Tage«.
Er erzählte seinen Verwandten davon und bat sie, ihn an einem freien Tag an jenen Ort zu begleiten, um jene offene Frage aufzuklären.
Als sie mit ihm dort hingingen und den Parkwächter fragten, was es mit den Tageszahlen auf sich habe, sagte dieser: »Sie zeigen nicht an, wie lange die hier Begrabenen gelebt haben, sondern an wie vielen Tagen sie im Leben glücklich gewesen sind. Beim einen waren es 21 Tage, beim anderen 37, und über 52 Tage ist noch keiner hinausgekommen.«
Sie dankten dem Wächter. İlyas flog bald darauf nach Mardin zurück und lebte dort noch eine ganze Weile. Doch als er schwer erkrankte, rief er kurz vor seinem Tod seine Söhne ans Krankenbettund sprach: »Auf meinem Grabstein soll Folgendes stehen: ›İlyas-ı Habır: Aus dem Mutterleib direkt ins Grab‹.«
Unwillkürlich mussten wir über den armen İlyas lachen, dem im Leben nicht ein einziger glücklicher Tag beschieden war, und selbst in dem Flugzeug nach Frankfurt schmunzelte ich wieder. Doch wenn ich die Geschichte auf mein eigenes Leben übertrug, wie sah es dann aus? Wie viele Tage würden auf meinem Grabstein stehen?
Glückliche Tage hatte ich natürlich erlebt, aber es ging ja nicht ums Glück allein. Wichtig war das Gefühl, dass das Leben, das man führte, eine Bedeutung hatte, einen Wert. Und das ist etwas anderes als das Glück der jungen Braut im weißen Kleid. Es geht um etwas Tieferes, Existentielles. Und um die Antwort darauf, ob es einen Sinn hat, dass ich auf die Welt gekommen bin, und ob ich dem Planeten oder den Menschen von irgendeinem Nutzen bin.
In dieser Hinsicht konnte ich die mit Maximilian verbrachten Tage auf meinem Grabstein verbuchen lassen. Auch wenn es schmerzlich verlaufen war, hatte ich durch die Begegnung mit ihm doch erkannt, dass ich etwas wert war.
Bis Frankfurt hing ich dergleichen Gedanken nach und schmiedete Pläne. Mir war, als stünden mir bedeutsame Tage bevor.
Am Frankfurter Flughafen ging es unwahrscheinlich zu. Es war ein Gewimmel von lauter Menschen, von denen jeder ganz mit sich selbst beschäftigt war, ohne die
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